Historie:Der Strand der Dinge

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Deutschland-Reise, Folge 14: Früher fuhren die Menschen zum Kuren und Kneippen nach Usedom. Heute nennen sie es Wellness. Auf den Spuren eines alten Reiseführers.

Von Karoline Meta Beisel

Es fühlt sich im ersten Moment an, als hätte eine höhere Macht die Kontrolle über den Körper übernommen. Alle Muskeln sind angespannt, der Mund schnappt auf wie auf Edvard Munchs berühmtem Gemälde "Der Schrei": als müsste die alte, veratmete Luft raus, um Platz zu machen für die Frische, die jetzt einziehen soll. Ob die Zehen schon abgestorben sind? Ob die winddicht verpackten Passanten, die skeptisch die Szene beobachten, wenigstens beeindruckt sind? Ob zwei Sekunden lang genug sind, um gesünder zu werden?

Am frühen Morgen ist ein Bad in der Ostsee vor Usedom so wohltuend wie ein Löffel Lebertran, nur kälter. Aber "die Erfahrung hat gelehrt, dass ein längerer Aufenthalt an der See und kalte Seebäder ganz besonders geeignet sind, stärkend auf den ganzen menschlichen Organismus einzuwirken." Das Meerwasser macht "Kopf und Herz klar und kräftig und heilt die Schäden, die Geist und Körper in den Mühen und Aufregungen des Alltagslebens erleiden." So steht es in "Griebens Reiseführer für die Ostseebäder" aus dem Jahr 1906, und wer würde nicht gerne die Schäden des Alltagslebens loswerden? Bis heute kommen die Menschen deshalb zum Kuren und Kneippen nach Usedom, auch wenn sie es inzwischen "Wellness" nennen.

Aus architektonischer Sicht war es ein Glück, dass lange kaum Geld vorhanden war

Heringsdorf wird in dem vergilbten Reiseführer aber nicht nur für den "vorzüglichen Badegrund" und die ausgezeichneten sanitären Verhältnisse gerühmt. Der Ort sei auch das "unstreitig eleganteste Ostseebad", und die Schönheit seiner Lage "in und mitten herrlichem Buchenwald, zwischen waldbedeckten Höhen" unerreicht. Den Badegrund kann man zwischen den Zehen fühlen, bevor das Gefühl langsam einem Gefühl von Taubheit weicht. Vorzüglich, in der Tat: fast keine Steinchen. Ob man auch die restlichen Attraktionen noch findet, wenn man die Insel mit dem alten Buch bereist?

Die Spurensuche führt hoch auf den "Kulm" genannten Hügel. Dorthin, wo ein Ahne von Loriot Anfang des 19. Jahrhunderts von Karl Friedrich Schinkel das erste Gästehaus des Ortes bauen ließ - lange bevor der Satiriker im Nachbarort Ahlbeck Szenen für seinen Film "Pappa Ante Portas" drehte. Dieser Oberforstmeister Georg Bernhard von Bülow war es auch, der in dem Fischerort Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Badeeinrichtungen in Auftrag gab.

Wo auf dem Kulm einst die Hautevolee flanierte, parken heute Wohnmobile, aber das "Weiße Schloss", in dem 1825 die ersten Gäste übernachteten, steht noch. Messingschilder weisen auf berühmte Gäste hin: Kurt Tucholsky kam 1920 und 1921, Kronprinzessin Viktoria schon 1866. Schlosshaft wirkt die Anlage allerdings längst nicht mehr: Die Farbe blättert von der Fassade, und auf dem Nachbargrundstück entstehen in einer lärmenden Baugrube neue Apartmenthäuser.

Aus architektonischer Sicht war es ein Glück für Heringsdorf, dass lange nicht viel Geld vorhanden war: Während anderswo Altbauten vermeintlich schicken neuen Gebäuden weichen mussten, blieb auf Usedom vieles, wie es war. Das Haus, in dem Maxim Gorki 1922 seine Tuberkulose auskurierte, beherbergt heute ein Museum; das vom Reiseführer empfohlene Hotel Lindemann: "nahe der See, 60 Zimmer, von zwei Mark an" empfängt immer noch Gäste - auch wenn es heute einen anderen Namen trägt und ein wenig teurer geworden ist. Auch an der mächtigen weißen Villa des Bankiers Oppenheim kann man noch vorbeispazieren, die Lyonel Feininger oft malte.

Die Insel ist für ihre sogenannte Bäderarchitektur berühmt: ein beeindruckendes Ensemble von Villen aus der Gründerzeit - manche im Stil eines italienischen Palazzo, andere fast Chalet-artig - die sich von Bansin im Westen bis Ahlbeck im Osten an der autofreien Promenade aneinanderreihen, mit Heringsdorf in der Mitte.

In Griebens Reiseführer steht dazu freilich nur ein kurzer Satz: "Überall sind prachtvolle Villen entstanden." Kein Wunder: Kam man damals doch nicht der schönen Häuser wegen, sondern für die gute Seeluft, bei der "Einflüsse tätig sind, welche die gewöhnliche Land- und Waldluft nicht aufzuweisen hat". Wer heute nach Usedom fährt, interessiert sich häufig aber durchaus für die Villen und ihre Geschichte - und findet beim Spaziergang leider so gut wie keine Informationen dazu.

Wer mehr wissen will, muss sich mit Hans-Ulrich Bauer verabreden. In jüngeren Jahren ist Bauer mit der DDR-Marine zur See gefahren, als Bäcker auf der MS Freundschaft. Heute schleppt er die Vergangenheit von Heringsdorf in einer braunen Herrenhandtasche umher: einen Ordner voll mit Schwarz-Weiß-Bildern und alten Postkarten.

Wie sehr der Hobby-Historiker an seiner Heimat hängt, merkt man am Schimpfen. Bauer kann sich enorm über die Bausünden der jüngeren Vergangenheit ärgern, und auch über Kleinigkeiten, die an den historischen Bauten nachträglich geändert wurden. Bei ihm klingt es fast so, als sei jedes nachträglich eingebaute Fenster und jede Villa, die dem Verfall überlassen wird, ein persönlicher Affront. "Es sollte schon noch den Namen Architektur verdienen", grummelt er dann, "Einheitssülze", wettert er über die wenigen Neubauten an der Promenade, oder: "Wir wurden ja nicht gefragt."

Auch 1907 standen am Meeresufer von Heringsdorf schon viele Strandkörbe, die damals noch aussahen wie kleine Lauben. (Foto: Volker Knuth/Rhino Verlag/Grünes Herz Verlagsgruppe; SZ-Grafik)

Aber Bauer kann eben auch jede Veränderung erklären und sie mithilfe seines Ordners zeigen, weist an dieser Villa auf ein später aufgesetztes Dachgeschoss hin, an jener auf eine nachträglich verglaste Loggia: "Nach dem Krieg hat man bei vielen Häusern die Balkone geschlossen. So konnte man die Wohnungen, in denen damals Flüchtlinge lebten, im Winter leichter heizen." Manchmal mischt er auch Privates in seine Architektur-Erzählungen: "Hier hat in der DDR mein Biologielehrer gewohnt."

An der Villa Staudt, gleich vorne an der Heringsdorfer Seebrücke, deutet er auf einen Eckturm, den man von der Promenade aus sehen kann. "Das war früher der vornehmste Salon von ganz Heringsdorf", erklärt er. Später gehörte das Haus Theodor Morell, dem Leibarzt Adolf Hitlers. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber empfing hier Elisabeth Staudt, die Witwe des Konsuls Wilhelm Staudt, regelmäßig zum Tee. Gern gesehener Gast war Kaiser Wilhelm II., der jedes Jahr hier einkehrte. Aus seinem Ordner holt Bauer einen Ausriss aus einer alten Zeitung: Als die Tochter des Hauses, Auguste-Viktoria, 1908 heiratete, war das sogar der New York Times eine Meldung wert.

Mit der blaublütigen Gunst schmückt man sich auf Usedom immer noch gern: Die drei Orte Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck vermarkten sich als die "Drei Kaiserbäder", in der Saison spielt die Kaiserlich Königliche Regimentskapelle in weiß-blauen Uniformen für die Kurgäste und selbst das Logo des Theaterzelts "Chapeau Rouge" am Strand von Heringsdorf erinnert an eine Pickelhaube.

Auch das traurige Wahrzeichen von Heringsdorf war früher nach einem Regenten benannt, die Kaiser-Wilhelm-Brücke. Traurig deshalb, weil von dem anmutigen, 500 Meter langen Holzbau mit seinen spitzen Türmchen, den Hans-Ulrich Bauer auf alten Fotos zeigt, nach einem Brand im Jahr 1957 nichts übrig ist. Vor allem aber weil das Ensemble, das 1995 dort errichtet wurde, so hässlich ist: ein langer, überdachter Steg, auf der gesamten Länge von einer Glaswand unterbrochen, damit man auch ja nie im Regen oder im Wind spazieren muss. Auf der Landseite als Eingang eine ramschige Einkaufspassage, am See-Ende ein Restaurant unter einem riesigen pyramidenförmigen Dach, das so aussieht, als wären dort die Freimaurer mit einem 90er-Jahre-Ufo gelandet. Noch dazu wird die Brücke auf dem Festland von schmucklosen Zwillingshochhäusern umrahmt, einem Hotel und einer Rehaklinik. Vermutlich sollte das alles nach der Wende total modern aussehen - heute wirkt das Ensemble verstaubter als die Villen an der Promenade.

Rechts und links der Seebrücke standen früher noch andere Bauten auf dem Strand: Badeanstalten, natürlich für Damen, Herren und Familien getrennt. Der alte Reiseführer zitiert ausführlich die Badeordnung: "§ 6: Das Überschreiten der Badebassins in den Seebadeanstalten ist strengstens untersagt. Zuwiderhandelnde können im Fall der Not nicht darauf rechnen, von der Anstalt gerettet zu werden." Heute wachen Rettungsschwimmer über die Badegäste, die mit ihren knallgelben Beach-Gefährten an die Mannschaft aus "Baywatch" erinnern.

(Foto: jhz)

Bis 1923 war Baden nur innerhalb der Anstalten erlaubt, ein "Zellenbad" kostete 50 Pfennige zur besten Badezeit zwischen neun Uhr vormittags und zwei Uhr nachmittags. Für 25 Pfennige konnten sich die Badenden von einer "Bedienung" ins Wasser begleiten lassen - schwimmen konnten nur die wenigsten. Übrigens auch nicht alle Bademeister, weswegen die Weigerung, einen Gast außerhalb der Anstalten zu retten, auch ganz praktische Gründe haben konnte: "Die mussten nur verheiratet sein", sagt Bauer.

Ein beliebter Look von Bansin bis Ahlbeck: Gesundheitsschuhe, florale Muster, Bürstenschnitt für sie und ihn

Der Sittenschutz ging aber noch weiter: § 1 der Regeln für das Familienbad legt als Kleiderordnung "geschlossene, aus undurchsichtigem dunklen Stoff hergestellte Bade-Anzüge" fest. 1932 gab es mit der "Badepolizeiverordnung" sogar ein Gesetz zu dem Thema, den sogenannten Zwickelerlass. Demnach mussten Badeanzüge im Schritt mit extra viel Stoff verstärkt sein.

Im Nachbarort Bansin herrschte demgegenüber "ein ungezwungenes Badeleben, übermäßiger Toilettenluxus wird nicht getrieben", heißt es in dem alten Reiseführer. Heute ist die Toilette von Bansin bis Ahlbeck dieselbe: Gesundheitsschuhe, florale Muster, Bürstenschnitt für sie und ihn. Nicht, dass es die eleganten Gäste von früher nicht mehr geben würde, nur sieht man sie hinter den hohen Hecken nicht, die die meisten Terrassen vor neugierigen Blicken und gezückten Smartphone-Kameras schützen.

Die meisten Villen an der Promenade sind immer noch in Privatbesitz, weswegen man kaum ein Haus von innen zu sehen bekommt. Umso überraschender, dass man kaum Geld braucht, um selbst in einem der viel fotografierten Häuser zu übernachten: In ein paar besonders hübsch verzierten Holzvillen zwischen Heringsdorf und Ahlbeck logiert eine der schönsten Jugendherbergen Deutschlands. Über einer Balkonbrüstung hängt am späten Nachmittag ein Bob-Marley-Badelaken zum Trocknen.

"Die Wirkung des Seebades auf den Körper ist zunächst das Gefühl von Frost und Kälte", schreibt Griebens Reiseführer. Das gilt durchaus auch für das zweite Bad des Tages am späten Nachmittag. Mund auf, stummer Schrei, dasselbe Spiel. Es stimmt aber auch, was dort über die Zeit nach dem Bad geschrieben steht: "Eine angenehme Wärme durchströmt den Körper, und die Brust dehnt sich, um in vollen Zügen die belebende Seeluft einzuatmen." Tatsächlich.

Ein paar Meter weiter steht eine Frau mittleren Alters im schwarzen Einteiler aus ihrem Strandkorb auf und geht langsam Richtung Wasser. Betucht oder Biologielehrerin, in Bademode lässt sich das kaum erkennen. Als sie sich bis zu den Schultern ins Wasser gleiten lässt, wird ihr Mund zu einem kleinen o. Das Meer macht alle Badegäste gleich.

© SZ vom 20.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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