Helikopter-Eltern:Kinder, bleibt im Haus!

Kind vor Fernsehen

Immer mehr Kinder verbringen ihre Freizeit im Haus, weil die Eltern Angst haben, sie könnten sich verletzen.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • In den USA ist die Erziehung von Angst geprägt. Das führt dazu, dass die meisten Kinder unter Aufsicht spielen oder im Haus herumsitzen.
  • Die Technik-Industrie profitiert von der Furcht der Eltern und entwickelt gezielt Produkte zur Überwachung von Kindern.
  • In Deutschland sollen Initiativen den Kindern wieder mehr Selbstbestimmung ermöglichen. Auch in den USA regt sich Widerstand gegen den Überwachungswahn.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles, und Lena Jakat

Die zwei Polizisten vor der Tür halten in der linken Hand jeweils eine Taschenlampe, die rechte verharrt in Western-Sheriff-Haltung, jederzeit bereit zum Griff an die Pistole. "Dürfen wir hereinkommen?", fragt der eine. Freundlich zwar, aber auch so bestimmt, dass "Ja" die einzige zulässige Antwort zu sein scheint. Er sagt: "Die Nachbarn sind besorgt." Ein kleines Kind schreie da, als würde es am Spieß gebraten werden.

Einen Spieß gibt es tatsächlich, allerdings nur einen winzigen aus Holz. Der steckt in der Hand des Fünfjährigen. Lautstark hatte er sich gegen die Entfernung des Splitters gewehrt, nun präsentiert er sein Unglück dem Polizisten. Der sagt: "Soll ich das mal probieren? Ich bin Profi. Ich bin Vater von drei Kindern." Der Junge ist plötzlich ruhig. Klar, nun doktert ja auch nicht die Mutter herum, sondern ein echter Cop. Dessen Kollegin teilt der Zentrale mit: "Nein, wir brauchen keine Verstärkung - es ist nur ein Kind mit Splitter in der Hand." Die Eltern sahen sich verdutzt an.

Der Vorfall ereignete sich kürzlich in Los Angeles. Die Familie kommt aus Deutschland.

Lieber einmal zu viel

Da war sie wieder, diese Angst, die umgeht in den Vereinigten Staaten. Man fürchtet um die Sicherheit der Kinder - um die der eigenen, aber auch um die der unbekannten aus der Nachbarschaft. Und alarmiert lieber einmal zu viel die Polizei. Immer mehr Eltern fürchten, einen einzigen kleinen Fehler mit verheerenden Folgen zu begehen. Verstärkt und vervielfältigt wird diese Angst täglich in den TV-Nachrichten, die voll sind von Geschichten über entführte, misshandelte oder gar ermordete Kinder.

Für Eltern, die aus dem Grund ständig schützend über ihrem Nachwuchs kreisen, wurde die schöne Bezeichnung der "Helicopter Parents" geprägt. Schon 1969 zitierte der israelische Psychologe Haim Ginott in seinem Buch Between Parent & Teenager ein Kind in dem Zusammenhang: "Meine Mutter wabert über mir wie ein Helikopter." In den vergangen Jahren erlebte der Begriff einen Boom, und zwar nicht nur in den USA.

1970 liefen in Deutschland noch 91 Prozent der Erstklässler selbstständig zur Schule, 2000 waren es nur noch 17 Prozent. Laut einer Forsa-Umfrage wurde 2012 jedes fünfte Kind mit dem Auto zur Schule gebracht. Zahlen aus dem Vereinigten Königreich weisen daraufhin, dass seit den Siebzigerjahren - binnen zwei Generationen - der Bewegungsradius von Kindern um nahezu 90 Prozent abgenommen hat. Demnach waren zwei von drei Zehnjährigen noch nie allein einkaufen oder unbeaufsichtigt im Park spielen. In einer aktuellen Umfrage gaben 71 Prozent der Berliner Eltern an, dass ihr Kind noch nie ohne Hilfe auf einen Baum geklettert sei.

Je mehr Kinder von der Selbstverständlichkeit zum Statussymbol werden, desto konsequenter wachen Eltern wie Glucken - oder eben Hubschrauber - über den Nachwuchs. Dabei räumen sie ihm auch jedes Hindernis aus dem Weg - der dänische Pädagoge Jasper Juuls hat dafür den Begriff der "Curling-Eltern" geprägt, weil sie wie ein Besen auf dem Eis alle Reibungspunkte zur Seite wischen.

An der digitalen Leine

Der Hang zum Helikoptern scheint in vielen Ländern der westlichen Welt ungebrochen. Doch zumindest technisch sind die USA hier Europa - wie so oft - deutlich voraus.

Auf der Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas wurden kürzlich zum Beispiel Drohnen mit eingebauten Kameras vorgestellt, die Livebilder liefern können oder den Träger eines GPS-Armbandes automatisch verfolgen. Das sei ganz wunderbar für professionelle Filmemacher oder Sportler, sagen die Hersteller - es klingt aber auch wie der wahr gewordene Traum paranoider Eltern: ein Mini-Flugzeug, das den Nachwuchs permanent verfolgt und zeitgleich Bilder an die Eltern sendet. In der Fernsehserie Modern Family wurde das Ausspionieren mit Drohnen bereits thematisiert.

Auf der CES wurde auch eine unauffällige Kamera für das Wohnzimmer präsentiert, die mit Gesichtserkennung ausgestattet ist und die Daten sogleich an iPhone oder Apple Watch übermittelt. Der Besitzer weiß also stets, wer sich dort aufhält - und kann alles aufzeichnen. Diese Spielerei wird mittlerweile auch Sitter Spy genannt, Babysitter-Spion. Wer weiß schon, ob das Nachbarsmädchen tatsächlich mit dem Nachwuchs spielt und ihn pünktlich ins Bett bringt. Oder sich auf der Wohnzimmercouch mit ihrem Freund vergnügt, während das Kind im Zimmer eingesperrt ist oder - schlimmer noch - dabei zusehen muss!

Das Geschäft mit der Angst

Die moderne Technik bietet beinahe alles, was das furchtsame Elternherz begehrt: Messgeräte für sämtliche Körperfunktionen von Neugeborenen mit automatischer Benachrichtigung des Notdienstes bei Irregularitäten; Schnuller mit integriertem Thermometer; Mobiltelefone mit Warnfunktion, falls der Nachwuchs den als sicher definierten Bereich (Sportplatz, Schule, Haus des Freundes) verlassen sollte. Es gibt sogar eine digitale Hundeleine für Kleinkinder: Sobald es sich weiter als 20 Meter vom Smartphone der Eltern entfernt, löst das Armband des Kindes einen Alarm aus.

"Es gibt mittlerweile eine komplette Industrie, die ihr Geld mit der Angst der Eltern verdient", sagt der Mitarbeiter eines Unternehmens, das ein solches Sicherheitsprodukt herstellt - seinen Namen will er ebenso wenig lesen wie den seiner Firma. "Selbstverständlich wünschen wir niemandem etwas Böses, aber natürlich schaden die Berichte über Krankheiten und Entführungen dem Umsatz der Branche sicherlich nicht."

Welt voller Gefahren

Eine Studie der University of California ergab, dass Kinder aus Familien der Mittelschicht in Los Angeles mittlerweile 90 Prozent ihrer Freizeit im Haus der Eltern verbringen. Im Haus, wohlgemerkt, nicht im Garten. Sie würden dabei alleine vor dem Fernseher sitzen oder am Computer zocken und nur selten Freunde empfangen. Im Bundesstaat Maryland attestierten die Jugendschutzbehörden einem Elternpaar jüngst "Vernachlässigung des Kindes", weil die sechs und zehn Jahre alten Kinder der Familie alleine draußen spielen und selbstständig nach Hause gehen dürfen.

Viele Eltern begründen ihre Angst damit, dass sich die Welt nun mal verändert habe. Früher, als sie selbst Kinder waren, fand sie die Mutter nach Sonnenuntergang an exakt einer von drei Stellen: Spielplatz, Nachbarn oder dem Ort am Fluss, den sie einem verboten hatte. Heutzutage, so die Meinung vieler Eltern, würden alleine auf dem Schulweg mehr Gefahren lauern als in einem Super-Mario-Level. Und überhaupt sei die Welt eine bösere geworden.

Obwohl in den Städten mehr und mehr Menschen auf immer weniger Raum zusammenleben, ist die Zahl der tödlichen Schulwegunfälle in Deutschland seit 2003 von 121 konstant auf 37 im Jahr 2013 zurückgegangen. Inzwischen gibt es Initiativen, die Eltern dazu bewegen wollen, ihre Kinder wieder allein zur Schule gehen zu lassen. Auch in den USA formiert sich mittlerweile Widerstand gegen den Überwachungswahn zugunsten einer freieren Erziehung in Form des sogenannten "free range parenting".

Die deutschen Eltern des Jungen mit dem Spreißel, die sich selbst als durchschnittlich besorgt bezeichnen würden, geraten bisweilen ins Staunen: Die Freunde ihres Sohnes stehen unter permanenter Beobachtung, einer darf nicht alleine im Zimmer spielen, weil er etwas verschlucken könnte. Ein anderer darf nur unter Aufsicht Fußball spielen - und höchstens 35 Minuten lang, dann sind zehn Minuten Pause vorgeschrieben. Alleine auf den Spielplatz? Vollkommen ausgeschlossen. In der Vorschule des Sohnes wurde das Fußballspielen in der Mittagspause verboten, weil sich ein Kind den Arm verstaucht hatte - nicht beim Kicken, sondern auf dem Weg zum Spielfeld.

Linktipp: Die umgekehrte Perspektive

Die in Berlin lebende Amerikanerin Sara Zaske schildert in einem Text für das Time Magazine ihr Erstaunen ob der liberalen deutschen Erziehungsmethoden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: