Geschichtsträchtige Insel im Polarmeer:Unendliche Geschichte einer Expedition

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Bea Uusma war auf mehr als einer unbewohnbaren Insel Spitzbergens. Auf Vogelsang wollte sie das Kästchen finden, das Polarfahrer Strindberg für seine Verlobte aus dem Ballon geworfen hatte. (Foto: BTB Verlag)

1897 stürzt ein Ballon auf dem Weg zum Nordpol ab, drei Männer sterben, aber keiner weiß, wie. Die Schwedin Bea Uusma versucht, das Geheimnis zu lüften - seit 18 Jahren.

Von Silke Bigalke

Sie sehnt sich nach einem Ort, an dem kein Mensch leben kann. Nach einer Insel im Polarmeer, mit einem riesigen Gletscher darauf. Steile Wände aus Eis machen es unmöglich anzulegen. Doch im Südwesten gibt eine eisfreie Küste, einen Streifen aus gefrorenem Sand und Steinen. Dorthin will, dorthin muss Bea Uumsa.

Die Insel heißt Kvitøya, Weiße Insel. Das Eis lässt sie im Meer leuchten. An ihrem Strand starben vor 119 Jahren drei Männer aus Schweden. Seit 18 Jahren versucht Bea Uusma, ihr Geheimnis zu lösen.

In ihrem Wohnzimmer in Stockholm hängt eine Karte von der Insel. Sie besteht aus nicht viel mehr als Umrissen. Dreimal hat Bea Uusma versucht, mit Touristenbooten von Longyearbyen auf Spitzbergen aus zur Insel zu gelangen. Das Packeis hat es nie zugelassen. Sie weiß, dass man Kvitøya auch "die unerreichbare Insel" nennt.

Sie hat schwarzen Tee gekocht, stellt die Milchtüte hin und kuschelt sich auf ihr oranges Sofa. "Es ist so verrückt, dass ich dieses Verlangen nach diesem Ort haben", sagt sie. "Ich suche mir das nicht aus."

Sie dachte, sie könne mit der Geschichte abschließen

Das Geheimnis, das sie dorthin treibt, ist das der Andrée-Expedition. Salomon August Andrée war Ingenieur beim schwedischen Patentamt. Er war 42 Jahre alt, als er mit einem Wasserstoffballon aufbrach, um als erster Mensch den Nordpol zu erreichen. Zwei Männer nahm er mit: Knut Frænkel, 27, war Ingenieur ohne Berufserfahrung, frisch von der Uni. Nils Strindberg, 24, Assistent an der Technischen Hochschule, war gut in Mathe, Physik und Astronomie. Er war frisch verlobt.

Andrée nannte seinen Ballon "Örnen", Adler, drei Lagen chinesische Ballonseide und viele kleine Lecks. Andrée wusste, dass der Ballon zu schnell Gas verlor. Er glaubte dennoch, dass es reichen würde. Wochenlang warteten sie auf der Däneninsel im Norden Spitzbergens auf Südwind. Einen Probeflug gab es nicht, am 11. Juli 1897 hoben sie ab.

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Bea Uusma ist Autorin, Illustratorin und Ärztin. Sie dachte, dass sie mit der Geschichte abschließen könne, wenn sie es nur zur Weißen Insel schafft. Oder spätestens dann, wenn sie ihr Buch fertig hat. "Die Expedition" ist längst erschienen, Uusma hat dafür 2013 den schwedischen August-Preis für das beste Sachbuch gewonnen. Doch wer sie in ihrer Stockholmer Altbauwohnung besucht, sieht sofort, dass sie mit gar nichts abgeschlossen hat.

Auf dem großen Tisch im Wohnzimmer liegen gut sortiert Bilder, Landkarten und Berichte über die Expedition. Ein riesiges Foto von Spitzbergens Küste nimmt die gesamte Wand hinter dem Sofa ein, eisblaues Wasser, meterhoher Gletscher, dunkler Felsen. In der Küche hängt die Karte vom letzten Lager der Ballonfahrer. Bea Uusma hat sie gezeichnet, die Schlitten, das Zelt, die Leichen, wo ihre Knochen verteilt lagen, Frænkels Oberarm, Andrées Wirbelsäule.

Die Expedition

Wenn sie hört, dass jemand anderes dorthin fahren will, zu ihrer Insel, wird Bea Uusma nervös. "Nein, geh' nicht, das ist meine", denkt die Fünfzigjährige dann. "Wie bei Gollum und dem Ring: Meine Expedition."

Über die Expedition ist auch vorher schon geschrieben worden. Man weiß heute, dass die Männer so nie hätten losfliegen dürfen. Bereits beim Start verlieren sie die Schleppleinen, Andrées wichtigste Erfindung. Sie sollten den Ballon steuern. Ohne sie steigt er zu hoch, verliert noch mehr Wasserstoff, sinkt. Die Ballonseide wird feucht und schwer, eine Eisschicht bildet sich. Die Männer werfen ab, was sie können. Nach knapp drei Tagen geben sie auf, landen mitten im Ozean auf dem Packeis.

Von der Däneninsel sind Knut Frænkel, Nils Strindberg und Salomon August Andrée (von rechts nach links) mit ihrem Ballon Richtung Nordpol gestartet. (Foto: UPPA/Photoshot)

Sie haben Schlitten dabei und ein Ruderboot, das nicht für offene Gewässer taugt. Alle Vorratslager für den Notfall liegen mehr als 300 Kilometer entfernt. Sie packen ihre Schlitten zu voll und laufen Richtung Süden. Doch das Eis unter ihren Füßen driftet nach Norden. Ihr Vater hat ihr davon erzählt, als sie klein war. Bea Uusma hat es nie vergessen: "Das Bild von jemandem, der läuft und nirgendwo hinkommt. Gruselig."

Die drei Männer schleppen sich 87 Tage über das Eis, bevor sie die Insel erreichen. Niemand weiß damals, ob sie noch leben. Sie verschwinden einfach. 33 Jahre später legt ein Schiff mit Robbenjägern und Wissenschaftlern zufällig an der Insel an. Die Jäger finden einen Dosendeckel, dann die Reste eines Bootes und schließlich die Leiche von Andrée, sitzend an einen Felsen gelehnt. Nils Strindbergs Leichnam liegt mit Steinen bedeckt in einer Felsspalte. Knut Frænkels Leiche wird Wochen später von einem Journalisten im Eis gefunden.

Sie nehmen alles mit, die Leichen, die Ausrüstung, die Tagebücher, den Medikamentenkasten, die Filmrolle, die Briefe von Nils Strindberg an seine Verlobte. Bea Uusma hat einige der Briefe in ihrem Buch abgedruckt: "Mein armes Annalein, wie wirst Du verzweifelt sein, wenn wir nächsten Herbst nicht zurückkehren."

Bea Uusmas Beziehung zu den Expeditionsteilnehmern beginnt in den Neunzigerjahren auf einer Party, auf der sie sich langweilt. Dort zieht sie ein altes Buch aus dem Regal, beginnt zu lesen und steckt es ein: "Mit dem Ballon dem Pol entgegen". Sie hat es noch, es ist etwas vergilbt, der Buchrücken fehlt. Manchmal rufe der Typ von der Party an, erzählt sie, und wolle es wiederhaben. "Ich sag dann: niemals."

Nach drei Tagen landete die Gruppe auf dem Packeis. Nils Strindberg macht die gesamte Reise über Fotos. (Foto: UPPA/Photoshot)

Als Andrée, Strindberg und Frænkel die Insel erreichen, kommen sie nicht einmal mehr dazu, ihre Schlitten abzuladen. Sie haben genug von allem dabei: Vorräte, Ausrüstung, Medikamente, Munition, warme Kleidung. Trotzdem sterben sie vermutlich nach wenigen Tagen. Zur Todesursache gibt es viele Theorien: Erfrieren, Kohlenstoffmonoxidvergiftung beim Essenkochen im Zelt, Selbstmord durch eine Überdosis Morphium, Sauerstoffmangel, weil sie eingeschneit waren, Vitamin A Vergiftung durch zu viel Robbenleber, Bleivergiftung wegen der Dosennahrung, Botulismus, ebenfalls eine Fleischvergiftung.

Bea Uusma fährt immer wieder ins Polar-Museum nach Gränna, zur Andrée-Ausstellung. Als sie dort zum ersten Mal die Konservendosen mit den Bissspuren der Eisbären sieht, den Schlitten, den Nils Strindberg repariert hat, den Knoten, den er vor mehr als hundert Jahren selbst geknotet hat, da packt es sie. "Alles wurde plötzlich real", sagt sie. "Fahr nie dorthin, du wirst so süchtig."

Leben im Eismeer

2005 bewirbt sich Uusma für eine Expedition von Alaska nach Spitzbergen, quer durch den Arktischen Ozean. Das schwedische Forschungsschiff nimmt immer einen Künstler kostenlos mit. Bea Uusma sagt von sich selbst, sie habe keine Fantasie. Sie müsse alles sehen, fühlen, schmecken, bevor sie darüber schreiben könne. An der Stelle, an der Andrées Ballon gelandet ist, lässt sie sich auf dem Eis absetzen. Sie steckt den Finger hinein, probiert es. Schmeckt wie Schnee.

Mehrere Monate lebt sie im Eismeer. Ihr fällt es danach schwer, nach Hause zu kommen, obwohl dort zwei kleine Kinder auf sie warten. Uusma sitzt auf dem Sofa, krault ihre Katzen und sagt, dass sie den Rest ihres Lebens auf diesem Schiff verbringen wollte. "Für mich war das mein Platz auf der Welt." Ihre Kinder seien an diese Versessenheit gewöhnt. Sie war schon mit Andrée beschäftigt, bevor die beiden geboren wurden.

Warum ausgerechnet eine Polarexpedition? "Das ist so schwer zu beantworten", sagt sie. Das Mysteriöse spielt eine Rolle, die offenen Fragen und dass es nach so vielen Jahren immer noch neue Hinweise gibt. Außerdem fühlt es sich gut an, über etwas richtig gut Bescheid zu wissen. "Man hat ein ganzes Universum für sich, es ist wie mein eigener Ort", sagt sie.

Bea Uusma konzentriert sich darauf, die Todesursache zu finden. Als sie ihre Recherche beginnt, ist die gängigste Erklärung eine Trichineninfektion. Trichinen sind winzige Würmer, die zum Beispiel in rohem Eisbärenfleisch vorkommen. Doch Uusma fällt auf, dass viele Autoren in diesem Punkt voneinander abgeschrieben haben. "Das ist so eine unwahrscheinliche Art zu sterben", sagt sie. Die Mortalität bei Trichineninfektion liege bei 0,2 Prozent.

Uusma steht vor weiteren Rätseln

Wegen der Expedition beginnt Uusma, Medizin zu studieren. Sie will in die Männer hineinschauen können, in ihre Zellen. Leider ist davon nichts übrig, die Leichen wurden vor dem feierlichen Begräbnis in Stockholm eingeäschert, ihre Kleidung fürs Museum gesäubert und ausgebessert.

Bea Uusma findet die Frau, die in den Siebzigerjahren die Handschuhe der Expedition gewaschen hat. In einem der Handschuhe fand sie drei lange, graue Fingernägel. Wahrscheinlich hatte Andrée ihn getragen, als er starb. Seine Hand ist darin verwest, ein Tier hat ihn abgezogen, die Fingernägel blieben hängen. Sie sind längst untersucht worden, ohne Ergebnis.

Sie lässt sich per Post eine Rippe aus Tromsø schicken, die ein Fotograf 1930 auf der Insel heimlich eingesteckt hat. Nach dem Tod des Fotografen wurde die Rippe entdeckt. Ein Professor stellte fest, dass es sich um eine Menschenrippe handelte. Knut Frænkels Rippe? Bea Uusma nimmt sie von der Post mit nach Hause. "Meine Kinder reden immer noch von dieser Rippe", erzählt sie, und schaut sich im Zimmer um. "Ich hab sie immer herumgeräumt, weil ich nicht begreifen konnte, wohin damit. Es war so seltsam." Ein DNA-Test ergibt, dass es eine Eisbärenrippe ist.

Bea Uusma schaut sich den Medikamentenkasten der Ballonfahrer an. Auf der Insel lagen drei Medikamente außerhalb des Kastens: Atropin gegen Schneeblindheit, eine Salbe gegen Erfrierungen, und Morphium. Im Museumsarchiv findet sie so etwas wie einen Obduktionsbericht. Die Leichen wurden in Tromsø oberflächlich untersucht, bevor sie nach Stockholm fuhren. Viele Knochen fehlten. Nils Strindberg war seine Kette mit den drei Anhängern, Herz, Kreuz und Anker, bis in die Unterhose gerutscht. Riss sie ihm kurz vor seinem Tod vom Hals? Ist er im Stehen gestorben?

In ihrem Buch wertet Bea Uusma die Tagebücher der Expedition aus, vergleicht Wetter, Nahrung, körperliche Aktivität, psychische Verfassung, Krankheitssymptome. Die drei Männer sind ständig nass, ihre Schlitten rutschen oft ins Eiswasser. Sie sind völlig überanstrengt, haben verletzte Füße, schweren Durchfall, Krämpfe, schlucken Morphium und Opium. Vier Tage, nachdem sie auf der Insel gelandet sind, hören die Einträge auf. Auch der Tod von Nils Strindberg wird nicht erwähnt, obwohl ihn mindestens einer der beiden anderen überlebt und begraben haben muss.

In Strindbergs Grab findet man 1930 auch seinen Verlobungsring. Für Bea Uusma ist es die tragische Liebesgeschichte, die sie besonders fesselt. Sie kennt die Telefonnummern von Nils Strindberg und seiner Verlobten Anna Charlier auswendig, sie hat dort angerufen, niemand hat abgenommen. Sie weiß die Zahl der Treppenstufen zu Strindbergs Stockholmer Wohnung. Sie ist auf einer Felseninsel vor Spitzbergen herumgeklettert, um die Box zu finden, die er für Anna aus dem Ballon geworfen hat. Sie hat mit Nachkommen der Angehörigen gesprochen und musste sich zusammenreißen, "damit es nicht so klingt, als würde ich täglich mit Nils und Anna zusammen sein", schreibt sie in ihrem Buch.

Bea Uusma holt Fotos von Anna, die sie immer beim Vornamen nennt, vom Tisch. Strindbergs Verlobte war Gouvernante, Klavierlehrerin, Konzertpianistin. Sie wartete 13 Jahre lang, dann heiratete sie einen Engländer und zog in die USA. "Sie hat auf alle ihre Briefe geschrieben: Nach meinem Tod verbrennen", sagt Uusma. Sie will deswegen nicht zu viel von Anna preisgeben.

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Anna hatte sich gewünscht, dass ihr Herz neben Nils Strindberg begraben wird. Der Rest liegt bei ihrem Mann in England. Bea Uusma konnte das kaum glauben, hat den britischen Friedhof angerufen, den Friedhof in Stockholm, das Krankenhaus, in dem Anna gestorben ist. Niemand wusste etwas. Dann fanden Angehörige alte Briefe von Nils Strindbergs Brüdern. Die hatten Annas Herz heimlich in Nils Grab auf dem Stockholmer Nordfriedhof gelegt.

Wie nah kann Uusma ihnen noch kommen? "Es ist, als wäre ich da", sagt sie. "Am richtigen Ort, aber zur falschen Zeit."

"Der schrecklichste Ort auf Erden."

So ist es auch, als sie es 2011 endlich zur Weißen Insel schafft. Sie läuft über den graubraunen Strand, vor dieser riesigen Wand aus Eis. "Der schrecklichste Ort auf Erden", sagt sie. Man spüre sofort: "Menschen sollten hier nicht sein." Sie setzt sich dorthin, wo Andrée saß, als man ihn fand. Ein kleiner Felsvorsprung, Andrées Blick fiel von dort direkt auf Strindbergs Grab. Ein Eisbär hat Strindberg getötet, davon ist Uusma überzeugt. Sie hatte die zerfetzten Unterhosen in der Hand, in denen er gestorben ist. Unterhalb von Andrées Platz stand das Zelt, in dem Frænkel lag. War Frænkel vom selben Eisbären verletzt worden? Neben ihm fand man das Röhrchen mit dem Morphium. Ein Mann tot, einer verletzt. Was ging Andrée durch den Kopf? Plötzlich hat Bea Uusma ihre Theorie.

Sie plant, im August wieder zur Insel zu fahren. Sie will den Boden mit einem Geo-Radar durchleuchten, hofft auf Knochen, auf Reste des Lagers. Einfach losgraben wie 1930 darf man heute nicht mehr.

"Ich habe auch ein wenig Angst zurückzugehen", sagt sie. Ihr letzter Besuch dort sei das Seltsamste gewesen, das sie je im Leben getan habe. Sie wolle das nicht abschwächen, indem sie es wiederholt. Sie fährt natürlich trotzdem. Sie muss ja.

Bea Uusma, Die Expedition. Eine Liebesgeschichte. Wie ich das Rätsel der Polartragödie löste. btb Verlag, 2016 (Foto: verlag)
© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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