Expedition in die Arktis:"Man legt sich besser nicht mit dem Eis an"

Expedition in die Arktis: Der Scoresby Sund an der ostgrönländischen Küste ist das größte Fjordsystem der Welt.

Der Scoresby Sund an der ostgrönländischen Küste ist das größte Fjordsystem der Welt.

(Foto: Andreas Remien)

Der nächste Ort ist 850 Kilometer entfernt und Eisbären ganz nah: Eine Reise mit dem Expeditionsschiff durch die Arktis nach Ittoqqortoormiit.

Von Andreas Remien

Windstärke 8 ist dann auch für die Kleiderstange zu viel. Als die Wellen vor der Küste Ostgrönlands Höhen von etwa fünf Metern erreichen, kippt im Bordshop die Auslage mit den Sonderangeboten um. Das große Scheppern kommt wie ein eingeplanter Tusch, passend zum Abschluss von Inas Vortrag im benachbarten Vortragsraum, wo die Gischt an den großen Panoramafenstern vorbeifliegt und die Gläser klirren. Dort hat die Cheforganisatorin gerade den Passagieren erklärt, wie es weitergeht - und wie nicht. Denn nicht nur die Fleecepullover an der Stange, sondern auch die ursprünglichen Pläne sind nicht zu halten.

Das Problem ist allerdings nicht der Sturm, sondern das Eis: Der Weg ganz in den Norden ist durch dicke Schollen verstopft. Also steuert die Fram, das Expeditionsschiff der Hurtigruten, erst mal den etwas südlicher gelegenen Scoresby Sund an. Trotz Planänderung müssen die gut 230 Passagiere kaum befürchten, einen wichtigen Termin an Land zu verpassen. Denn das Hauptziel dieser Fahrt ist der Nordosten Grönlands, und dort gibt es in zivilisatorischer Hinsicht weitgehend: nichts. Eine Reise in diesen Teil des Landes ist eine Reise in die einsame, atemberaubende Natur der Arktis. Menschen gibt es fast nur in jenem Ort, der so isoliert wie für Mitteleuropäer unaussprechbar ist: Ittoqqortoormiit. Die nächste Ortschaft im Süden ist circa 850 Kilometer entfernt, im Norden gibt es nicht viel mehr als eine winzige Forschungsstation und Hütten der "Sirius"-Patrouille, der Hundeschlitten-Einheit der dänischen Streitkräfte.

Minus 23 Grad

Im Sommer und frühen Herbst ist Ittoqqortoormiit gut erreichbar, auch auf dieser Reise im September. Die Temperaturen liegen deutlich über dem Gefrierpunkt, ganz im Gegensatz zum Winter, wenn es bis zu minus 23 Grad kalt wird und heftige Stürme über das Land fegen. Dass es in dieser kargen und oft lebensfeindlichen Einsamkeit überhaupt Menschen gibt, hat vor allem politische Gründe: Um seinen territorialen Anspruch auf ganz Grönland zu untermauern, hatte Dänemark vor knapp hundert Jahren Einwohner aus anderen Teilen Grönlands hierher umgesiedelt. Wie damals verbringen die circa 440 Einwohner ihre Zeit auch heute noch damit, Robben, Wale und Eisbären zu jagen - die Inuit dürfen pro Jahr eine festgelegte Anzahl an Tieren erlegen. Da sich Robbenfelle in Europa allerdings nicht mehr sehr gut verkaufen lassen, sind die Besucher von Kreuzfahrtschiffen eine durchaus willkommene Einnahmequelle. In dem kleinen Laden von Ittoqqortoormiit sollte man allerdings keine Lebensmittel einkaufen, denn das Frachtschiff mit frischer Ware kommt meist nur ein Mal im Jahr. Wenn die Touristen den Kindern im Herbst die Schokolade wegkaufen, gibt es bis zum Frühling auch keine mehr.

Unbedenklich ist dagegen ein Besuch in dem kleinen Museum, bei den Schlittenhunden oder auch bei Erik Petersen, den man in dem Ort auf einer kleinen Anhöhe findet. Petersen, der mit grönländischem Namen "Sanimuinaq" heißt, arbeitet für das meteorologische Institut. "Das Leben wird hier nicht von der Uhr, sondern von den Jahreszeiten und dem Wetter bestimmt", sagt er. Ausgerechnet Sanimuinaq muss sein Gesetz der Zeitlosigkeit allerdings regelmäßig brechen, zwei Mal jeden Tag. Dann lässt er nämlich um 11 und um 23 Uhr einen weißen Wetterballon in die Luft steigen. Nach einem "Three! Two! One!" verschwindet der Wetterballon recht schnell Richtung Stratosphäre, wo er viele Daten sammelt, die für den europäischen Wetterbericht und die Klimaforschung wichtig sind. Sanimuinaq verlässt sich allerdings lieber auf seine Intuition, schaut nach dem Start der teuren und komplexen Messgeräte in den Himmel und murmelt "zwei Tage gutes Wetter". Er sollte recht behalten.

Expedition in die Arktis: An seinem Eingang liegt die weitgehend isolierte Siedlung Ittoqqortoormiit, deren Einwohner vor allem von der Jagd leben.

An seinem Eingang liegt die weitgehend isolierte Siedlung Ittoqqortoormiit, deren Einwohner vor allem von der Jagd leben.

(Foto: Andreas Remien)

Probleme mit Alkohol und schlechte medizinische Versorgung

Wenn im Sommer die Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt liegen und die Farben der bunten Holzhäuschen in der Sonne strahlen, ist Ittoqqortoormiit ein fast idyllischer Ort, der nichts über seine Probleme wie den Alkohol oder die schlechte medizinische Versorgung verrät. Ohne Einschränkung faszinierend ist die umgebende Landschaft des Scoresby Sund, eines der größten Fjordsysteme der Erde, das sich bis weit ins grönländische Festland verästelt. Flache, hohe, runde, gezackte Eisberge treiben auf dem tiefblauen Wasser, einige von ihnen schon viele Jahre alt und mehrere hundert Meter tief.

Auf der Fahrt durch den Fjord passiert die Fram schneebedeckte, gut 2000 Meter hohe Berge, Steilwände mit bizarr geformten Spitzen und Gletscher, die sich in der Abendsonne zart rosa färben. Nach dem Sonnenuntergang zeigt sich der Fjord in einem Licht, das nur der Norden zu bieten hat - noch lang schimmert die arktische Landschaft in Rot, Orange und gelben Pastelltönen. Nur ein dumpfes Krachen der Gletscher unterbricht hin und wieder die Stille. Auch der Schlaf mancher Passagiere wird unterbrochen, als Expeditionsleiter Tomasz über die Lautsprecher das erste von vielen Polarlichtern meldet, das im Nachthimmel über dem Schiff Spiralen dreht.

Karten

Ein Tier, das die Passagiere in Aufregung versetzt

Eisbär

Auf Robben haben es auch die Eisbären abgesehen.

(Foto: Andreas Remien)

Auch am Tag gibt es Überraschungen. Die Tundralandschaft mit ihren Heidekrautarten, Moorpflanzen, Gräsern und Zwergsträuchern ist mindestens so farbenfroh wie die Häuser von Ittoqqortoormiit. Von den weißen Schneefeldern plätschert das Eiswasser entlang der rot, lila und gelb blühenden Blumen und grünen Moose in den Sund mit seinen türkis leuchtenden Eisschollen. Kein Wunder, dass sich hier auch Moschusochsen, Hasen und Polarfüchse wohlfühlen - auch wenn sie schnell das Weite suchen, sobald die ersten Passagiere das Land betreten.

Nach dem Abstecher in den Scoresby Sund geht es für die Fram dann doch weiter in den Norden. Auf der Fahrt entlang der grönländischen Küste ist es gar nicht so einfach, zur Ruhe zu kommen. Man könnte zwar stundenlang einfach nur die schneebedeckten Berge, Eisschollen und den Himmel in seinen ständig wechselnden, sanften Farben bewundern, dabei in der Panoramalounge einen Kaffee trinken, eine Waffel essen oder einfach vollständig in einen kontemplativen Zustand versinken. Immer wieder aber taucht - im wahrsten Sinne - ein Tier in der grönländischen See auf, das die Passagiere in Aufregung versetzt.

Blumenkohlsuppe und tote Robbe

Dazu gehört in der Arktis natürlich das Wappentier Grönlands, der Eisbär. Das Raubtier ist immer präsent, auch wenn es nicht da ist. Bei jeder Anlandung muss das mit Gewehren ausgerüstete Expeditionsteam das Areal absichern. Das erste Exemplar taucht während der Fahrt entlang der Küste auf, stellt für die Passagiere also keine Gefahr da. Mehr Pech hatte da schon die Robbe, die der Bär auf der blutverschmierten Eisscholle gerade vertilgt, als sich die Fram nähert. Bei der zweiten Begegnung sind es die Passagiere, die gerade essen, wenn auch keine Robbe, sondern Blumenkohlsuppe.

Als an den Backbord-Fenstern des Bordrestaurants plötzlich eine Scholle mit einer Eisbärmutter und ihrem Jungem auftaucht, gibt es kein Halten mehr: Die Hälfte der Passagiere lässt die Löffel fallen und stürmt hinaus. Auch als verschiedene Wale auftauchen, eilen die Gäste zu den großzügigen Aussichtsdecks der Fram.

"Eine Reise in die Arktis ist auch heute ein Abenteuer"

Mit jeder Seemeile Richtung Norden wird es kälter, das Wasser auf den Geländern gefriert zu einer Eisschicht. Die Fram geht auf Kurs Nordost, um ihr letztes Ziel, Spitzbergen, anzusteuern. Doch das ist gar nicht so einfach, denn das Eis wird immer dichter. Immer wieder erschüttert ein kleiner Donner das Schiff, wenn die Seitenpropeller Schollen wegschieben. Die Fram ist dank "Eisklasse 1B" und ihrer Wendigkeit zwar bestens für die Arktis gerüstet, aber kein Eisbrecher. Immer wieder muss das Schiff daher umkehren und sich einen neuen Weg suchen. "Man legt sich besser nicht mit dem Eis an", sagt Kapitän Ole Johan Andreassen.

Reiseinformationen

Die Fahrt mit der Fram beginnt in Reykjavik und führt über den Nordwesten Islands an die ostgrönländische Küste. Welche Orte dort angesteuert werden können, hängt stark vom Eis ab. Ziel der Fahrt ist Longyearbyen auf Spitzbergen. Die Reise wird auch in umgekehrter Richtung angeboten. Preis: ab 7551 Euro.

Neben den jungen und flachen Schollen, die das Schiff mühelos brechen oder wegschieben kann, treiben auch alte, sehr harte Brocken in der grönländischen See. Die Navigation ist Schwerstarbeit, denn die Eiskarten sind veraltet, und die Satellitenaufnahmen wegen des Nebels nicht zu gebrauchen. Man bekommt eine Ahnung davon, welche Herausforderungen die ersten Entdecker meistern mussten. "Eine Reise in die Arktis ist auch heute ein Abenteuer", sagt Expeditionsleiter Tomasz. Die Fahrt hinaus auch.

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