Geschichte:Fliegenjagd auf NA 4 Nord

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50 Jahre Ruhr-Uni: Bochums Betongebirge verkörpert die Zukunft der Bildung - jedoch anders, als es sich die Erbauer erhofft hatten.

Von Roland Preuss

Der Weg zur Bildung, er ist schnell in Bochum und breit. Man zweigt vom vierspurigen Autobahnzubringer ab, Ausfahrt "Universität Mitte", schon rollt man auf ein beeindruckendes Parkhausportal zu, das zur Rundfahrt unter der Universität einlädt. Es geht bergab ins Dunkle, ein wenig so wie bei der Einfahrt in eine Kohlegrube. Nur nicht so ansprechend: Rechts ziehen verrußte Betonstützen vorbei, links warnt ein Schild vor Autoaufbrüchen, und oben erleichtern sich die Tauben.

Aber eine Treppe höher steht man mitten auf dem Campus. Die Ruhr-Universität Bochum galt bei ihrer Eröffnung vor 50 Jahren als wegweisend, der Spiegel brachte damals eine Titelgeschichte zu "Deutschlands modernster und aufwendigster Alma Mater". Heute fragt sich der Betrachter, was um Himmels willen die Planer dazu getrieben hat, diese Ungetüme in die hübschen Hügel über der Ruhr zu setzen.

Auf Facebook wird die Beton-Uni besonders gern verspottet. So nahm ein gefälschter Aushang, der angeblich vom Rektor kam, zugleich das akademische Bürokratiesprech und die maroden Sanitäranlagen auf die Schippe. Im Rahmen einer "team-basierten Strategie" seien Nutzer aufgefordert, künftig "vor (wahlweise auch nach) jedem Toilettengang durchschnittlich ein bis zwei Fliegen zu jagen und anschließend zu entsorgen. Unsere Berechnungen, unter Einbeziehung der Anzahl der Beschäftigten auf NA 4 Nord und der Anzahl der durchschnittlichen Toilettengänge, haben ergeben, dass sich die Fliegenbelastung auf diese Weise innerhalb nur eines Monats auf ein geringes bis mittleres Niveau senken lässt."

"Bei Regen wirkt der graue Beton sehr, sehr grau und sehr, sehr trist."

Die Ruhr-Uni, ein marodes Monster aus Beton? Ansichtssache, natürlich.

Vier Stahlbetondecken über dem Autokeller sitzt Uni-Rektor Elmar Weiler. "Ich bin nach und nach zu einem Verständnis dieser Architektur gekommen", sagt er. "Ich fühle mich wohl hier." Wie auch immer man stehen mag zum Liebreiz dieses grauen Ensembles am Rande der Ruhrgebietsstadt Bochum, die Bedeutung der Universitätsgründung vor 50 Jahren, die an diesem Wochenende mit Bundespräsident Joachim Gauck gefeiert wird, ist unbestritten.

Die Ruhruniversität Bochum steht für den Geist der Sechzigerjahre, im Guten wie im Schlechten: heutige Ansichten des Großkomplexes. (Foto: Tania Reinicke/laif)

Es war die erste Volluniversität, die in der Bundesrepublik neu gegründet wurde, ein Koloss entworfen nach dem Zeitgeist der frühen 1960er-Jahre, ein Bildungskraftwerk der Superlative: die größte Baustelle der Bundesrepublik mit dem zweitgrößten Parkhaus der Welt. Die Hochschule war Auftakt und Beispiel zur Gründung weiterer Universitäten, die in ähnlicher Beton-Ästhetik daherkamen wie Bielefeld, Dortmund oder Regensburg. In diesen bildungspolitischen Gründerjahren liefen hitzige Debatten, in denen der Wissenschaftsrat 1960 einen "Massenandrang" von Studierenden vorhersagte, der Philosoph Georg Picht vor einer "deutschen Bildungskatastrophe" warnte und der Soziologe und FDP-Politiker Ralf Dahrendorf Bildung als "Bürgerrecht" ausrief.

Mehr Akademiker braucht das Land, lautete der Tenor - und die Universitäten beklagten schon damals eine Überfüllung. Nur so ist verständlich, warum das damals CDU-geführte Nordrhein-Westfalen von 1961 an den Kraftakt wagte, 2,3 Milliarden Mark für das Projekt einzuplanen, mehr Geld, als das Land in 15 Jahren für den Bau von Schulen, Gerichten und Polizeiwachen zusammen ausgegeben hatte.

Bochum war nicht nur die erste in der Reihe, sie bot auch weitere Besonderheiten: Die Universitätsbauer wollten auf dem Campus eine "ideale Universitätsstadt" schaffen, deren Architektur brach mit den heimeligen Fassaden deutscher Tradition-Unis wie Freiburg oder Bonn. 86 Entwürfe wurden eingereicht, darunter eine Art riesiges Alt-Heidelberg. Doch dieser Klon eines seit Jahrhunderten gewachsenen Campus, ausgerechnet im Ruhrgebiet, fiel durch. Stattdessen sollte die Uni von außen gut erreichbar sein für Pendler, denen man Tausende Parkplätze hinbetonierte. Praktisch ging vor. Der Campus selbst wurde bewusst kompakt gestaltet, um alle Bereiche in nur 15 Minuten zu Fuß erreichen zu können. Bochum ist eine Uni der kurzen Wege.

Darin spiegelte sich der Anspruch an eine Modernität im Inneren: Die traditionellen Fakultäten wurde durch 18 überschaubare Abteilungen abgelöst, gemeinsame Institute für Professoren aus mehreren Abteilungen beförderten die Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg. Erstmals wurden in das Uni-Angebot aufgenommen die Ingenieurwissenschaften, die bis dahin nur an "Technischen Hochschulen" ihr Dasein fristeten. Das war nicht revolutionär, aber doch ein Prototyp, entwickelt von einer Runde etablierter Professoren, die ihre (schlechten) Erfahrungen einbrachten. Das Konzept hatte Strahlkraft. Dies seien "Ansätze einer Hochschule-Reform, die Deutschlands Universitäten aus einer viel beschworenen Krise führen soll", schrieb der Spiegel damals.

Außenansicht des Auditorium Maximum. (Foto: Tania Reinicke/laif)

Vor Bochum war das Ruhrgebiet universitätsfreie Zone. Schon seit den Zeiten Kaiser Wilhelms II. sollte es weder Kasernen noch Universitäten im Revier geben, das würde nur Unruhe stiften. Die Bergmänner und Stahlarbeiter sollten lieber malochen als mit Bildung oder Theorien Zeit zu verschwenden. Dass die Wahl dann auf Bochum fiel, war Ergebnis politischer Tricksereien. Die CDU-Landesregierung favorisierte früh Bochum als Standort, auch um den langjährigen Forderungen der SPD nach einer Hochschule in Dortmund etwas Eigenes entgegenzusetzen. Insgeheim holten die Gesandten aus Düsseldorf die Unterstützung des Bochumer SPD-Oberbürgermeisters ein, was letztlich einen Streit zwischen den beiden SPD-Rathauschefs auslöste, der als "Städtekampf" in die Geschichte einging. Ein positives Gutachten für den Standort Dortmund wurde unter Verschluss gehalten, Sympathisanten für die Konkurrenz-Stadt in der CDU-Fraktion auf Linie gebracht. Intern hatte sich die CDU-Regierung bereits im Herbst 1960 für Bochum entschieden, im Juli 1961 folgte der Beschluss des Landtages, keine vier Jahre später, im Juni 1965, eröffnete Ministerpräsident Franz Meyers die Uni. Ein heute undenkbares Tempo. Frieden kehrte erst ein durch die Entscheidung, auch in Dortmund eine Hochschule zu errichten.

Eine eigens auf dem Bochumer Campus errichtete Feldfabrik stellte riesige Betonplatten her. Das Gelände war autotauglich, passend zur kurz zuvor errichteten Opel-Fabrik in Bochum und passend zur Idee der Pendler-Uni. Immerhin wurde der Autoverkehr auf die unteren Ebenen beschränkt. Die großzügigen Betonflächen darüber sind für Fußgänger reserviert, dazwischen erheben sich die kastenförmigen Forschungsgebäude. Das einzige Dekorationselement bilden Schornstein-Attrappen, die einzelne Gebäude wie "Ozeanriesen ohne Heck und Bug" aussehen lassen, wie ein Theologie-Professor 1965 anmerkte. Das einst frische Grau ist mittlerweile verwaschen, vielerorts bröckelt der Beton, die Reste von Graffiti und Plakaten ändern das Bild nicht grundsätzlich. Von oben Betrachtet, im Luftbild oder Architekturmodell, hat das Ensemble seinen Charme. Wenn man mittendrin steht macht es den Menschen klein, verloren, fassungslos.

Der Vater des Rektors war Bergmann - viele Arbeiterkinder schafften es auf die Ruhr-Uni

"Es kommt darauf an, ob es regnet oder die Sonne scheint", sagt der Bochumer Asta-Vorsitzende David Schmidt auf die Frage, wie er die Architektur empfindet. "Bei Regen wirkt der Beton sehr, sehr grau und sehr, sehr trist." Es ist die Diagnose, die man von anderen Großbauten der 1960er- und 1970er-Jahre kennt, man nennt das Betonbrutalismus. Das Bundesbank-Gebäude in Frankfurt ist ein bekanntes Beispiel oder der AfE-Turm an der Uni Frankfurt, der vergangenes Jahr gesprengt wurde. Es sind Symbole für Bauwerke dieser Zeit, die schnell verwahrlosten, in denen sich Menschen unwohl fühlen, die monströs sind. Nicht zufällig kursierte immer wieder die Behauptung, an der Uni Bochum brächten sich besonders viele Menschen um.

Der Treppenzugang zur Ruhruniversität. (Foto: Tania Reinicke/laif)

Besser also man geht nach innen, wo man die Bauten nicht sieht - und wo in Bochum der eigentliche Schatz dieser Universität verborgen liegt. Denn die unkonventionelle Organisation der Uni hat Kreise gezogen und wirkt bis heute. Die Gliederung mit kleinen Abteilungen und fächerübergreifenden Instituten wurde durch viele junge Wissenschaftler belebt. "Fast alle sind aus den USA gekommen und waren kaum älter als ihre Studenten", sagt Uni-Rektor Elmar Weiler. Das war ungewöhnlich in einer Zeit, in der Forschungsaufenthalte in Amerika die Ausnahme waren und in den Fakultäten noch viele ehemalige Nazis saßen. Bis heute gebe es im Vergleich zu anderen Hochschulen wenige Grabenkämpfe zwischen den Disziplinen, sagt Weiler. "Wir haben ein hochgradig kooperatives Verhalten hier, es wird viel über die Fächer hinweg zusammengearbeitet." Hier bewährt sich sogar die blockartige, dichte Bauweise, die sich doch sehr unterscheidet von Traditions-Unis, deren Gebäude oft über die halbe Stadt verstreut sind. "Die Kollegen Professoren kennen sich, das hilft", sagt Weiler.

Weiler ist gebürtiger Bochumer und ein temperamentvoller Verteidiger seiner Uni. Das muss er einerseits sein als Rektor, doch es hat auch mit seiner Geschichte zu tun. Weiler, Professor für Pflanzenphysiologie, hat 1970 in Bochum angefangen, da stand der Campus noch voller Bauzäune. Die Uni war "hervorragend ausgestattet, die Türen weit offen", sagt Weiler, er konnte schon im vierten Semester als Student forschen, die Hierarchien waren flach: "Mich hat hier nichts weggetrieben." Und natürlich weiß er den schlichten Charme der Betonbauten ins Positive zu wenden. "Es gibt ja auch beschauliche Universitäten, aber hier kann man intensiv arbeiten", sagt Weiler. Die optische Ablenkung jedenfalls hält sich auf dem Campus in Grenzen. Wissenschaftlich hat sich der Bochumer Ansatz ausgezahlt: Die Universität hat einige bemerkenswerte Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, unter ihnen Bundestagspräsident Norbert Lammert, die frühere EKD-Vorsitzende Margot Käßmann, der Historiker Hans Mommsen lehrte hier fast 30 Jahre, Herbert Grönemeyer studierte ebenso in Bochum wie der Kabarettist Georg Schramm. Bei den Exzellenzinitiativen, dem milliardenschweren Förderprogramm von Bund und Ländern, wurde die Hochschule mit Graduiertenschulen und einem Forschungsschwerpunkt in Chemie bedacht.

Der Asta-Vorsitzende Schmidt ist überzeugt, dass einiges übrig geblieben ist vom Gründergeist der Sechzigerjahre. Man arbeite gut zusammen, über Fächer hinweg, aber auch der Asta und der Rektor. Die Dozenten seien auch heute jung. Natürlich gebe es immer wieder Sprüche. "Aber der gigantische Komplex in grüner Natur hat doch Charme", sagt Schmidt. Es muss echte Zuneigung sein. Wenn der Chemiestudent nach seinem Bachelor einen Master dranhängen will, dann in Bochum.

Weiler und Schmidt haben eines gemeinsam: Beiden war die Akademische Karriere nicht vorgezeichnet, Weilers Vater war Bergmann in Bochum, Schmidts Eltern haben eine Ausbildung gemacht. "Ohne die Uni hier hätte ich nicht studieren können", sagt Weiler. Die Nähe zur Stadt, die Möglichkeit, bei den Eltern wohnen zu bleiben, öffnete vielen aus der Region die Tür zum Studium. Schon in den ersten Jahren zählte man hier deutlich mehr eingeschriebene Arbeiterkinder als im Bundesdurchschnitt. Das ist heute noch so: Gut 60 Prozent der Bochumer Studenten haben Eltern ohne Hochschulabschluss, bundesweit sind es nur 44 Prozent.

Die These von der hohen Selbstmordrate hat die Uni untersuchen lassen, sie wehrt sich mit Wissenschaft gegen eine jahrzehntealte Statistik. Ergebnis: Es gibt nicht mehr Selbstmörder als anderswo.

Mittlerweile wird auch Deutschlands einst "modernste" Uni modernisiert, Bautrupps demontieren derzeit die zwei Großgebäude, nach und nach werden die Ozeanriesen grundsaniert - oder abgerissen und neu gebaut. Die Idee der Campus-Uni der kurzen Wege soll erhalten bleiben, ebenso wie die Anordnung der Gebäude. Nur das Parkhaus wird man wohl nicht losbekommen. Wer es sprengt, müsste auch ein paar Gebäude darüber in die Luft jagen. Damit bleibt der Weg aus der Uni so wie die Einfahrt zu Beginn. Nachmittags rasen die Autos aus den Tiefen der Uni, auf vier Spuren, dem Autobahnzubringer entgegen.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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