Geschichte der  Kaufkraft:Ort der Verzückung

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Supermärkte sind eine öde, nüchterne Sache geworden. Obwohl sie ganz schön aufgerüstet werden, obwohl sie immer größer geworden sind. Aber die Entzauberung schreitet voran. Erstaunlich, denn: Das war mal ganz anders.

Von Angelika Slavik

Von der österreichischen Pop-Sängerin Christina Stürmer gibt es ein Lied mit dem Titel Supermarkt. Darin heißt es: "Ich zieh' jetzt in den Supermarkt / da hab ich alles, was ich brauch'/ dort gibt es was zu essen/ und zu trinken hab'n die auch."

Natürlich könnte man jetzt glauben, dass so viel Begeisterung beim Gedanken an Milch, Toast und Klopapier ein Einzelphänomen ist, aber tatsächlich ist dieser Enthusiasmus vielleicht bloß ein wenig aus der Zeit gefallen. In den frühen Sechzigern zum Beispiel, da war Deutschland kollektiv verzückt von der neuen Methode des Einkaufens, die da plötzlich überall angeboten wurde. Eine Wochenschau aus dem Jahr 1963 fängt Kundenstimmen ein, Enthusiasmus in Schwarz-Weiß: "Viel praktischer" sei der Einkauf in den modernen "Selbstbedienungsläden", wird da konstatiert, man könne die Preise besser vergleichen, habe mehr Auswahl und müsse nicht erst warten, bis man bedient werde. Die Schnelligkeit sei entscheidend, sagt ein Mann mit Hut: "Zeit ist Geld."

Eine Wochenschau aus dem Jahr 1963 fängt Kundenstimmen ein: Enthusiasmus in Schwarz-Weiß

Weil Wirtschaft und Zerstörung seit jeher zusammengehören, scheint es, wenigstens rückblickend, unausweichlich zu sein, dass diese Begeisterung für das Neue fatale Folgen haben musste für die alte Form des Einkaufens. Der Aufstieg der Supermärkte läutete das Ende der Tante-Emma-Läden in der Bundesrepublik ein. Für die Lieferanten wurden die selbständigen Kaufleute als Abnehmer zunehmend unattraktiv, sie bestellten nur kleine Mengen, mussten einzeln angefahren werden und waren weniger zahlungskräftig. Und die Kunden wandten sich nun ohnehin mehrheitlich den Supermärkten zu - auch wenn es am Anfang durchaus Vorbehalte gegen das Konzept Selbstbedienung gab.

Schon 1938 hatte der Unternehmer Herbert Eklöh in Osnabrück einen ersten Laden mit Selbstbedienung eröffnet, aber erst lange nach dem Krieg, 1957, entstand in Deutschland der erste Supermarkt amerikanischer Dimension: 2000 Quadratmeter Verkaufsfläche, Fleisch, Fisch und Obst unter einem Dach - das stellte alles bis dahin Gekannte in den Schatten. Sogar die Betreiber der neuen Läden selbst befürchteten zunächst hohe Diebstahlsraten, zu Unrecht. Allerdings waren viele Kunden anfangs überfordert: davon, den Einkaufswagen unfallfrei durch den Laden zu bugsieren. Und von der Möglichkeit, noch nicht bezahlte Ware anfassen und mitunter auch wieder zurücklegen zu dürfen. Zu Beginn gab es deshalb Gebrauchsanweisungen auf Flugzetteln: So bewegen Sie sich in einem Selbstbedienungsladen. Nehmen Sie aus dem Regal, was Sie wollen. Legen Sie in den Einkaufswagen, was Sie kaufen möchten. Zahlen Sie am Ende an der Kasse.

Das ist schon ein bisschen rührend aus heutiger Sicht und natürlich fragt man sich, wann den Supermärkten diese Romantik verloren gegangen ist. Im Frühjahr 2016 jedenfalls diskutiert Deutschland über die Frage, ob der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel eher richtig oder eher falsch gehandelt hat, als er sich über das Bundeskartellamt hinweg gesetzt und den Zusammenschluss von zwei der verbliebenen fünf großen Supermarkt-Ketten genehmigt hat. Edeka schluckt nun also den kleineren Konkurrenten Kaiser's Tengelmann, garantiert den Fortbestand von 16 000 Jobs für mindestens fünf Jahre. Manche sagen, das sei schlecht für die Supermarkt-Kunden, die immer weniger Auswahl hätten. Andere sagen, das sei schlecht für die Landwirtschaft, die immer niedrigere Abnahmepreise für ihre Erzeugnisse hinnehmen müsse. So oder so: Supermarkt im Jahr 2016, das ist keine Projektionsfläche mehr für Wunscherfüllung und große Freiheit. Im Gegenteil. Heute ist der Supermarkt eine lästige Pflicht geworden, ein Fixtermin, der den Samstagvormittag verstopft. Viele, vor allem junge Leute, versuchen deshalb immer häufiger, den Wocheneinkauf dort zu umgehen, und lassen ihre Waren direkt nach Hause liefern. Es zeichnet sich ab, dass die Art, wie wir einkaufen, wieder vor einem Umbruch steht.

Manche reagieren darauf mit der Konzentration auf eine bestimmte Zielgruppe: Neben den Veganen- und Bio-Supermärkten gibt es Läden, die ihre Lebensmittel nur unverpackt anbieten, um die Umwelt zu schützen. In Ostfriesland hat ein Supermarkt eröffnet, in dem ausschließlich plattdeutsche Warenbezeichnungen verwendet werden, um die Verbundenheit zur Region zu demonstrieren. Und in der Schweiz existiert ein Laden, der völlig ohne Mitarbeiter auskommt: Die Tür öffnet sich nur mit einer bestimmten Handy-App, auch bezahlt wird mobil. Klingt das effizient? Oder doch einfach nur traurig?

Ein Bekenntnis zu mehr Nüchternheit hat nach dem Aufkommen der Supermärkte für den bislang größten Umbruch in diesem Segment gesorgt: Das Konzept der Discounter, die auf reduzierte Atmosphäre und günstige Preise setzen, hat die Aldi-Gründer Theo und Karl Albrecht reich gemacht - und den Lebensmitteleinkauf in Deutschland seit Anfang der 60er-Jahre nachhaltig verändert. Die Bundesbürger sind knausrig, wenn es um ihr Essen geht, sagen die Statistiken. Oder plakativ ausgedrückt: In Frankreich knattert man gern in einer Schrottkarre zum Sterne-Restaurant, in Deutschland fährt man im Mercedes bei Aldi vor. Eine Prioritätenfrage.

Die Lichtfarbe an der Käsetheke ist kein Zufall, das Verhalten der Kunden wird genau ausgewertet

In den vergangenen Jahrzehnten jedenfalls sind Supermärkte Orte geworden, an denen nichts dem Zufall überlassen wird: Obst und Gemüse stehen immer beim Eingang, als Blickfang. Der Farbton des Lichts, das auf die Käsetheke fällt, ist ebenso komponiert wie der Geruch im Laden, die Hintergrundmusik und die Anordnung der Regale: Wer einmal drin ist, im Supermarkt, kommt so schnell nicht mehr raus. Man muss sich durch unzählige Regale schlängeln, um den schnellen Liter Milch zu besorgen, Regale voller Möglichkeiten und potenzieller Bedürfnis-Stiller. Man schiebt dabei einen Einkaufswagen, der so konzipiert ist, dass die enthaltene Warenmenge möglichst klein aussieht. Und man wird, je nach Markt, digital erfasst: Wo gehen Kunden hin, wo bleiben sie stehen, wo greifen sie zu? Ein Supermarkt von heute ist ein Ort ohne Geheimnisse.

Emotionen sind das Wichtigste, um Kunden zu halten, sagen die Werbeleute immer. Wie soll das klappen bei so einer nüchternen Angelegenheit? Marktführer Edeka versuchte es vor Weihnachten mit einem Werbespot um einen einsamen alten Mann, der von der Familie Jahr für Jahr zum Fest im Stich gelassen wird. Bis er seinen Tod vortäuscht, um endlich alle an einen Tisch zu bekommen. Großes Kino, wo man doch eigentlich nur mitteilen wollte: Brathähnchen wäre derzeit im Angebot.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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