Fotostrecke:Die Nagelprobe

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Protest gegen Bauwut: In China ziehen die Bewohner der "Nagelhäuser" selbst dann nicht aus, wenn der Abriss droht.

Von Kai Strittmatter

Dem herausstehenden Nagel ist eines von zwei Schicksalen beschieden: Er wird plattgeklopft oder er wird herausgezogen. Die theoretisch vorstellbare dritte Option - der Nagel bleibt stehen - ist in der Praxis keine: Sie ist eine Provokation, in China vielleicht noch mehr als anderswo. Das Land stand in den vergangenen dreißig Jahrzehnten unter dem Zeichen des "Chai". Abreißen heißt das auf Deutsch. Ganz China wurde in diesen Jahren einmal, zweimal abgerissen, mindestens, und dann in einem Lidschlag wieder aufgebaut. "Chai, chai, chai, überall Abriss, Abriss, Abriss", seufzte einmal ein chinesischer Freund erschöpft, um hinzuzufügen: "Klar, sonst hießen wir ja nicht" - und das letzte Wort sprach er auf Englisch aus - "China". Chai-na. In Shanghai leben heute neun von zehn Familien nicht mehr in den Räumen, in denen sie noch vor zwanzig Jahren gewohnt haben. "Ich höre so oft Ausländer sagen, sie besuchten nun ihr Elternhaus", sagte der Künstler Ai Weiwei einmal. "Wir Chinesen können das nicht: Wir haben keine Elternhäuser mehr."

Das dickköpfige Ausharren ist ein in China höchst seltener Akt der Rebellion

China wird umgepflügt. Das liegt nicht allein an Fortschritt und Urbanisierung, das liegt auch daran, dass die Volksrepublik China kein privates Eigentum an Grund und Boden kennt. Denn natürlich hatten auch alle Chinesen einmal ein Elternhaus - bloß kann es einem hier über Nacht entzogen und zu Staub geklopft werden, wenn "das öffentliche Interesse" es befiehlt, also in der Praxis jene oft unheilige Allianz aus lokalen Parteifunktionären und Immobilienunternehmern. Von den Zehntausenden nicht selten gewalttätigen Unruhen, die China jedes Jahr heimsuchen, gehen die meisten auf solche Fälle gewaltsamen Abrisses zurück.

Die irrsinnige Bauwut hat China ein modernes Antlitz gegeben und sein Wirtschaftswunder befeuert. Sie hat aber auch ein ganzes Volk entwurzelt. Wenn Chinas Internetnutzer seit einigen Jahren das Phänomen der "Nagelhäuser" feiern, dann, weil diese Häuser ein Symbol sind. Tief drin rühren sie bei vielen an offensichtlich versteckte Gefühle von Trauer, Reue, aber auch Zorn.

Gebäude sind das, die nicht weichen, deren Besitzer dem Wahnsinn für einen Moment widerstehen. Wie das letzte Stück einer freigelegten Wurzel liegen diese Häuser meist da, längst abgetrennt von dem sie einst nährenden Geflecht der Nachbarschaft, die schon pulverisiert wurde. Eigentlich erwarten sie bloß noch den Hieb der Axt - sind dabei aber allein durch ihr dickköpfiges Ausharren ein in China höchst seltener Akt der Rebellion. Dazu kommt hier ein Aufblitzen der Erinnerung - einer Erinnerung nicht nur an das Verlorene, sondern auch an den Gedanken, dass diese Art der Urbanisierung vielleicht nicht so selbstverständlich und so alternativlos ist, wie das Pekings Propaganda behauptet. Dass also vielleicht auch Urbanisierung vorstellbar wäre, die nicht im Kommandoschritt stattfindet.

Los ging es mit dem Kult um die Nagelhäuser 2007, als eine so sture wie findige Restaurantinhaberin namens Wu Ping in Chongqing sich zwei Jahre lang weigerte, den Immobilienentwicklern einer Shoppingmall das Haus zu übereignen, in dem schon drei Generationen ihrer Familie gelebt hatten. Ihr Kampf war kurzfristig auch deshalb erfolgreich, weil sie verstand, sich der sozialen Medien zu bedienen und die Sympathie des Volkes gegen die Gier der Entwickler auszuspielen. Sie gingen um die Welt, die Bilder von den Baggern, die sich um das Häuslein der Frau Wu herum in die Tiefe fraßen, bis am Ende auf der Spitze einer zehn Meter hohen Erdnadel nur mehr ihr Haus balancierte, ein weltweit gefeiertes Denkmal ihrer Aufsässigkeit.

Am Ende wich auch Frau Wu. Am Ende weichen sie alle. Verhandelbar sind nicht die Vorstellungen der Besitzer und Bewohner von ihrem Leben und von ihrer Zukunft, verhandelbar sind nicht die Gestaltung der Gemeinden oder die Planung der Städte, verhandelbar ist am Ende nur die Summe der Entschädigung. Man kann sich seine Nägel also mit etwas Glück noch etwas vergolden lassen. Dann werden sie plattgemacht.

© SZ vom 19.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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