Familie und Partnerschaft:Und jetzt alle!

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Obwohl heutzutage mehr geknipst wird als je zuvor, ist die Tradition der Familienporträts nahezu ausgestorben. Schade eigentlich. Höchste Zeit, das zu ändern.

Von Anne Backhaus

Theodor kommt Anfang der Woche zur Welt. Er ist ganz klein und rosa, hat dichtes schwarzes Haar. Es ist schön, ihn zu sehen. Der Cousin ist vor Jahren nach Singapur ausgewandert und hat dort nun eine Familie gegründet. Theodor. Die Verwandtschaft in der Heimat feiert den Nachwuchs im Whatsapp-Chat. Darin die Mutter des stolzen Vaters, Schwester, Bruder und Cousine. Alle wären natürlich lieber in Singapur, aber immerhin kommen von dort sofort die Bilder. Am Geburtstag drei, jedes einzelne wird genau angeschaut. Die Mutter stellt viele Fragen, die Schwester mag das kleine Krankenhausmützchen. Am zweiten Tag sind es zwölf Fotos. Am dritten 26. Ende der Woche ist die Zahl dreistellig.

Dann kommen keine Fragen mehr.

Noch nie zuvor gab es so viele Aufnahmen von uns wie heute. Täglich werden weltweit Milliarden von Selfies gemacht, dazu kommt eine riesige Masse an Familienbildern. Angefangen bei Babyfotos, über die Einschulung, bis hin zur peniblen Dokumentation der Bescherung an Weihnachten und des Geburtstagsfests der Oma. Das ist schön, weil man ja Erinnerungen schafft und sie schnell miteinander teilen kann - auch dann, wenn die Sippe auf verschiedenen Kontinenten lebt. Gleichzeitig ist das ständige Fotografieren nervig und nicht wirklich sinnvoll, weil sich diese Flut an Bildern eh nie wieder jemand ansieht. Das übermäßige Knipsen führt irgendwie dazu, dass es kaum noch Familienbilder gibt, die wirklich als besonders in Erinnerung bleiben.

Die Art und Weise, wie wir Fotos machen und mit ihnen umgehen, ist natürlich begründet in der modernen Technologie. Wer heute fotografiert, hat nur noch selten eine Kamera in der Hand, sondern nutzt meist das Mobiltelefon und nimmt sich dafür nicht besonders viel Zeit. Schon gar nicht, um aufwendig die Familie vor perfektem Hintergrund zu platzieren. Noch nie wurde so viel Alltag abgelichtet. Diese Bilder sind zwangsläufig völlig anders als zu den Anfängen der Fotografie. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich das neue Medium, doch konnten sich selbst Wohlhabende nur zu besonderen Anlässen ein Gruppenbild leisten. Die Verwandtschaft abzulichten, ging mit einigem Aufwand einher. Es brauchte einen Fotografen, die Belichtungszeit dauerte ewig, und alle mussten in ihrer Sonntagskleidung eine kleine Ewigkeit stillstehen - diese Ewigkeit merkt man den Bildern aber auch an. Eine solche Aufnahme hing im besten Fall über mehrere Generationen im bürgerlichen Wohnzimmer.

Für berührende Familienfotos braucht es gar nicht unbedingt Expertenwissen

Diese Familienfotos sind nun Relikte aus einer längst vergangenen Epoche. Mit der Technik hat sich auch der Blick der Fotografen und die Art der Bilder gewandelt. Wie intensiv Familienaufnahmen heute deshalb sein können, zeigt der Bildband "Family Photography Now" (Thames & Hudson). Die Autoren Sophie Howarth und Stephen McLaren versammeln die Arbeiten von 40 internationalen Fotografen, die sich auf unterschiedlichste Art mit Familien auseinandersetzen. Neben eher klassischen Gruppenaufnahmen finden sich auch solche, die neue Formen von Familien und Lebensentwürfen zeigen: gleichgeschlechtliche Paare mit ihren Kindern, alleinerziehende Väter, mehrere Generationen unter einem Dach. Oder sehr moderne Familienporträts, bei denen ein Teil der Angehörigen per Skype über einen Beamer zugeschaltet ist.

"Es hat mich selbst erstaunt, wie viele Fotografen sich mit dem Thema Familie auseinandersetzen", sagt McLaren. "Dieses Feld der Fotografie hat sich in den letzten Jahren extrem verändert, das ist bisher allerdings kaum aufgefallen, weil wir ja alle irgendwie mitmachen." Nur dass unsere privaten Aufnahmen eben selten über das eher klägliche Geknipse hinausgehen.

Dabei braucht es für berührende Fotos gar nicht unbedingt Expertenwissen. Vor Kurzem ging die Bilderserie von Nicholas Nixon um die Welt. Er hat seit 1975 jedes Jahr seine Frau mit ihren Schwestern in Schwarz-Weiß fotografiert. So sieht man nun auf beeindruckende Weise, wie sich die vier Frauen über 40 Jahre verändern und ihre Beziehung zueinander enger wird. "In der Familienfotografie geht es gar nicht so sehr um das reine Dokumentieren", schreibt Sophie Howarth. "Vielmehr formen wir unsere Familienhistorie. Wir machen Alben, physikalisch oder auch digital, um die Geschichte zu erzählen, die wir über unser Leben glauben wollen."

Auch wenn nicht alle zu sehen sind, zeigen die Fotos doch, was eine Familie eigentlich ausmacht

Gemeinsam mit McLaren hat sie über mehrere Monate die Fotoprojekte für ihr Buch zusammengestellt. "Wir wollten möglichst viele Facetten von sowohl Fotografie wie auch Familien zeigen", sagt McLaren. "Professionelle Fotografen können das natürlich gut, die gehen drei Schritte zurück und schauen, was das Thema der Familie ist, was sie einzigartig macht. Darauf fokussieren sie sich dann." In den Serien sind nicht unbedingt immer alle Familienmitglieder im Bild. Sie machen jedoch kenntlich, was die Familie ausmacht. Fotograf Timothy Archibald aus Kalifornien wendet sich zum Beispiel seinem autistischen Sohn zu. Man kann nahezu fühlen, wie sich der kleine Junge der Welt nähert und von ihr abgrenzt. Der Magnum-Fotograf Trent Parke konzentriert sich hingegen auf die chaotischen Familienfeiern seiner australischen Verwandtschaft. Da wird geweint, gespielt und gestritten, in absurden Elefantenmasken Wein getrunken, und nebendran schläft ein übermüdeter Vater einfach ein.

Der großformatige Bildband lässt viel Raum für all diese Familien, auch Raum für die Fantasie des Betrachters. "Wir haben überlegt, ob ein Fotobuch nicht eigentlich eine veraltete Idee ist", sagt Autor McLaren. "Aber gedruckt haben Bilder doch eine besondere Kraft." Er selbst vermisst das oft im Alltag. Seit er nach Kalifornien ausgewandert ist, bekommt er Fotos vom schottischen Familiennachwuchs per SMS geschickt. "Meine Großeltern haben noch einen Raum voller Familienfotos", sagt er. "Da kann ich Stunden verbringen, die ganze Verwandtschaft ansehen und habe Fragen, die mir digital gar nicht kommen." Es lohnt also, sich mal wieder Zeit für eine Momentaufnahme mit den Angehörigen zu nehmen. Oder zumindest die paar Minuten, um ein Foto von ihnen auszudrucken.

Das erste Bild von Theodor aus dem Whatsapp-Chat hängt nun jedenfalls. Es ist wirklich schön, ihn zu sehen.

© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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