Familie und Partnerschaft:Geliebte Schwester

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Ein Mädchen verlernt plötzlich alles, was es bis dahin konnte. Erst ein Zufall klärt die Ursache der Krankheit - fünfzig Jahre später.

Von Bernd Graff

Im Mai 2012 verändert ein Zeitungsartikel Leslie Maltons Leben und das ihrer Familie. Und beendet unverhofft eine über fünfzigjährige Ungewissheit. Plötzlich hat das "Anderssein" ihrer Schwester Marion einen Namen: Rett-Syndrom.

Mehr als ein halbes Jahrhundert glaubte sie und ihre Familie, ein fiebriger Infekt hätte ihre Schwester im Alter von zwei Jahren angesteckt und sei damit der Grund für ihre Krankheit. "Beim Lesen erfuhr ich endlich, was mit meiner Schwester los war", sagt Leslie Malton bei einem Treffen in Berlin. Alle im Text beschriebenen Symptome der genetisch bedingten Krankheit, die eine schwere körperliche und geistige Behinderung mit sich bringt, treffen auf ihre Schwester zu und so wurde auch klar: "Nichts hätte ihre Entwicklung aufhalten können. Die einzige Frage, die offen blieb und bleibt: Warum sie - und nicht ich." Dieselben Eltern, dieselben Gene. "Es hätte genauso gut mich treffen können."

Über die Geschichte ihrer Schwester hat Leslie Malton ein Buch geschrieben, das "Brief an meine Schwester" heißt. Eigentlich ist Malton Schauspielerin, bekannt aus "Tatort" und "Der große Bellheim". Jetzt hat sie auch als Autorin Erfolg, vier Wochen nach Erscheinen des Buches musste die zweite Auflage gedruckt werden, seit fast acht Wochen ist sie auf Lesereise.

Das Buch behandelt die Geschichte der Malton-Geschwister und ihre besondere Beziehung zueinander. Es ist ein sehr persönliches Buch, doch Malton erzählt ihre Familiengeschichte unaufgeregt und unprätentiös. Es ist durchgehend in Form der persönlichen Ansprache eines Briefes verfasst, den sich Menschen schreiben, die sich schon sehr lange und sehr gut kennen.

Die beiden Schwestern sind elf Monate auseinander. Doch ihr Leben verläuft komplett anders

Leslie, Tochter eines amerikanischen Diplomaten und einer Wienerin, kommt nur elf Monate vor ihrer Schwester Marion auf die Welt. Die Familie lebt damals im Westen Berlins, die Mädchen wachsen wie Zwillingsgeschwister auf. Etwa eineinhalb Jahre nach Marions Geburt verändert sich das Kind: Es entwickelt sich nicht weiter und verlernt alles, was es bis dahin problemlos konnte. Marion kann plötzlich nur noch unsicher gehen, gar nicht mehr sprechen und nicht alleine essen. Ihre Arme kann sie nicht mehr koordinieren, mit den Händen zeigt sie ständig Waschbewegungen. Das Mädchen schreit spontan und überlaut. Es weint und weint.

Leslie Malton (rechts) und ihre Schwester im Sommer 1963. Marion entwickelt sich bereits nicht mehr weiter und verlernt alles, was sie bis dahin konnte. (Foto: privat)

Was nimmt Marion wahr? Nimmt sie überhaupt etwas wahr? Die Familie ist völlig ratlos. Zuerst denken die Eltern, Marion sei vielleicht etwas langsamer als andere Kinder, noch zu bequem zum Laufen, zum Krabbeln, zum Fassen und auch zu faul, um zu sprechen. Das wird schon noch. Doch als sie zwei Jahre alt ist, spricht der Großvater es schließlich aus: Mit dem Kind stimmt etwas nicht.

Ab da beginnt für die Familie die Odyssee zwischen Ärzten und, je älter Marion wird, auch diversen Pflegeeinrichtungen, in denen sie immer tageweise untergebracht wird. Der Vater wird als Diplomat zeitweise wieder zurück in die USA berufen, deswegen spielt sich diese Familiengeschichte auf zwei Kontinenten ab. Überall werden Spezialisten aufgesucht mit völlig unterschiedlichen Untersuchungsmethoden und völlig unterschiedlichen Theorien. Mal will man nach einem "Cat-Scan", einer frühen Computertomografie, ein völlig zerstörtes Gehirn festgestellt haben, dann empfiehlt man "Patterning", erzwungene Musterbewegungen zur sensorischen Stimulation. Schließlich ist von Autismus die Rede.

Es bleibt ein Rätselraten, über Jahrzehnte. Dabei war Marion doch "normal" auf die Welt gekommen. Die Ungewissheit und der immer ausbleibende Behandlungserfolg ist für die Familie die Hölle. Aber sie hegen die Hoffnung, "dass es plötzlich Peng machte, der Kokon aufplatzt und Marion herausspringen würde".

Fest steht nur: Marion ist schwerstbehindert und benötigt ständige Fürsorge. Die Familie stellt sich darauf ein, für Leslie Malton wird es völlig normal, eben auch die Betreuerin ihrer kleinen Schwester zu sein. Irgendwann stellt sie bei einer befreundeten Familie fest: "Meine Freundin hatte auch eine jüngere Schwester, fast im selben Altersabstand wie Marion und ich. Aber die Ältere passte nicht auf die Jüngere auf, ging nicht mit ihr aufs Klo und half nicht beim Treppensteigen. Diese jüngere Schwester benahm sich anders, als ich dachte, dass kleine Schwestern sich benehmen. Hier lernte ich: Die sind eine ganz normale Familie. Nicht wir."

Beim Rett-Syndrom liegt eine Störung auf dem X-Chromosom vor. Männliche Föten sterben dabei fast immer schon im Mutterleib, nur Mädchen überleben wegen ihrer beiden X-Chromosomen mit dieser Beeinträchtigung. Deswegen spricht man auch von den "Rett-Mädchen". Etwa 2500 bis 4000 Mädchen und Frauen sind davon in Deutschland betroffen, die Dunkelziffer ist hoch, weil die Krankheit kaum bekannt ist. Die Häufigkeit dieser spontanen Genmutation liegt bei etwa 1:15 000 Geburten. Etwa fünfzig Mädchen kommen in Deutschland jährlich damit zur Welt, damit ist es die zweithäufigste genetische Behinderung nach dem Down-Syndrom. Und nicht therapierbar. Leslie Malton ist seit 2013 Botschafterin für Kinder mit Rett-Syndrom, um über diese Krankheit breiter aufzuklären. Der gesamte Erlös der Buchverkäufe geht an den Verein "Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom".

Leslie Malton hat über ihre Schwester ein Buch geschrieben. (Foto: Joachim Gern)

Die große Schwester hilft nicht nur bei der Betreuung, sondern versucht auch, die Schwester zu beschützen. "Wenn meine Klassenkameraden mich fragten: Warum spricht deine Schwester nicht?, gab ich zur Antwort: Weil sie keine Lust hat." Niemals hätte sie zugegeben, dass sie noch kein einziges verständliches Wort, keinen einzigen Satz von ihrer Schwester gehört hatte. Obwohl sprachliche Kommunikation unmöglich ist, bleibt der Austausch unter den Geschwistern intensiv. "Wir verstehen uns irgendwie immer", sagt Malton. "Ich weiß meist, was Marion meint und empfindet. Sie ist ja keine Autistin, die abgeschlossen in ihrer eigenen Welt lebt." Sie sei kommunikativ, aufmerksam, eine lebendige Frau - mit sprechenden Augen. "Sie spricht zwar nicht, aber sie ist nicht stumm."

Marion lebt heute mit ihrer Mutter in Kalifornien, hier gehe man "offener" mit Behinderten um. "Auf der Straße kommt immer jemand und fragt, ob wir Hilfe brauchen", sagt die 57-Jährige. "Niemand schaut 'gschamig'. Mitleid ist das Allerschlimmste." Es gebe schließlich keinen Grund, von der Welt ausgeschlossen zu werden, nur weil man nicht sprechen kann.

Die Eltern haben die behinderte Tochter nie in ein Heim gesteckt. "Bei jedem Umzug stellten wir uns dieselben Fragen: Was ist gut für Marion, wie findet man eine Einrichtung, die sie fördert?" Ein ewiges Ratespiel, viel sei auch danebengegangen. "Die Leute kommen nach den Lesungen zu mir und sagen, am besten habe ihnen gefallen, dass die Familie zusammengehalten hat und nicht daran zerbrochen ist", sagt Malton. "Dass man mit einer solchen Behinderung nicht leiden muss, weder als Betroffener noch als Angehöriger."

Leslie Maltons Berufswahl sei kein Zufall, sagt sie. Sie habe schließlich von klein auf die Schwester "übersetzt" und versucht, Marions Sprachlosigkeit Sprache und Ausdruck zu verleihen. Die Schwester wiederum habe ihr Körperlichkeit beigebracht. "Ohne das läuft auf der Bühne und vor der Kamera nichts."

Leslie Maltons Bühnenengagements führen sie quer durch die Republik. Der Vater ist seit fast zwanzig Jahren tot, Maltons Mutter ist über achtzig, wer wird die Schwester also künftig betreuen? In ihrem Buch heißt es: "Soweit ich weiß, hat Mama kaum noch soziale Kontakte, pflegt ihr Haus, ihren Garten. Und dich. Aber sonst?" Das wird und kann nicht ewig so weitergehen. Wie und wo wird Marion in Zukunft leben? Und welche Rolle spielt Leslie Malton künftig in der Pflege ihrer Schwester?

"Es gibt für Rett kein Rezept, keinen Plan, nach dem man leben könnte", schreibt sie in ihrem Buch. "Mein größter Wunsch bleibt, dass auch du irgendwann mal unabhängig und so leben könntest, wie du möchtest." Es ist dieser Wunsch, der bleibt. Und der vielleicht stark macht für alles, was noch kommt.

© SZ vom 09.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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