Essay:Aber sicher

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(Foto: Florian Peljak)

Paris und die Folgen: Warum fällt es den Deutschen so schwer, ganz rational über das Gleichgewicht von Freiheit und Sicherheit nachzudenken?

Von Tomas Avenarius

Das Deutschland von 2015 ist ein beneidenswert friedlicher Ort, fast schon ein Heidi-Land. Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit werden erfreulicherweise eher selten mit Geschrei, Ellenbogen oder gar Fäusten ausgetragen. Zwar ist die Streitkultur durch Stolperstricke und Tabus so hochzivilisiert worden, dass man kaum noch zum echten Streiten kommt, man muss bei allem so viele Regeln beachten. Aber damit lässt es sich sehr gut leben. So jedenfalls erlebt einer sein Land, der zehn Jahre als Korrespondent im Nahen Osten und fünf in Russland gelebt hat, an Orten mit einer brutalen Gangart. Vieles ist danach weniger wichtig. Man muss sich nicht vorsehen wie im Nahen Osten. Gewalt, Selbstmordbomber, Maskenmänner an Checkpoints, Geheimdienstschnüffler, ein umfassender Polizeistaat. In Deutschland? Eigentlich undenkbar.

Trotz NSU-Terror, steigenden Ausländerhasses, Glatzen, Pegida, wachsender Armut und unbestreitbarer sozialer Härten: Deutschland 2015 ist immer noch eine Wohlfühlgesellschaft. Politische und soziale Konflikte werden meist konsenswillig überwunden, der harte Begriff vom Staat durch die irgendwie liebenswerte Idee der Zivilgesellschaft aufgeweicht. Sehr viele leben in ihren selbst gegärtnerten Nischen. Für die, die da nicht mithalten können, gibt es wenigstens Hartz IV. Dieses Wort kennt man in Ägypten nicht oder in Libanon. Meist ist man nett in Deutschland, ein bisschen hedonistisch, ein wenig verwöhnt, manchmal ziemlich tranig. Bei alledem politisch immer sehr, sehr korrekt.

Erwarten Väter und Mütter nicht, dass alles dafür getan wird, damit die Kinder unversehrt nach Hause kommen?

Jetzt aber Paris, der 13. November. 129 Tote, mehr als 350 Verletzte. Selbstmordattentäter, Blutlachen im Musikclub und auf Café-Terrassen, ein schnell an seine Grenzen stoßender französischer Polizeiapparat. Später wüste Schießereien und Explosionen in den Vororten, wieder Tote. Eine Welle der Solidarität auch in Deutschland mit den 2015 zum zweiten Mal vom Terror geprüften Nachbarn. Aber die naheliegende Frage nach dem Risiko eines Islamisten-Attentats in Berlin, München oder Dortmund? Panikmache! Den Anschlag bloß nicht herbeireden! Bei uns ist bisher nichts passiert!

Oder, intellektuell gehaltvoller: Ja, sicher gibt es Gefahren. Aber erstens gibt es kein Null-Risiko im Leben, schon gar nicht bei der Terrorabwehr. Und zweitens, da wird es grundsätzlich, müsse uns die offene Gesellschaft dieses Risiko wert sein. Genauer: Die Freiheit, die wir verteidigen, werden wir nicht bewahren, indem wir Deutschland in einen Polizei- und Überwachungsstaat verwandeln.

Sehr ehrenwert. Aber auch wenn es sehr platt daherkommt - erwarten Väter und Mütter nicht, dass alles dafür getan wird, damit ihre Kinder unversehrt nach Hause kommen, wenn sie mit der U-Bahn zur Schule fahren oder den Abend beim Rockkonzert verbringen?

Wer nach dem Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit fragt, ruft noch lange nicht nach dem Polizeistaat, der bürgerliche Freiheiten ausverkauft. Ja, die deutsche Anti-Terror-Strategie ist offenbar gut, besser auch vielleicht als die französische. Es gibt ein hoch professionelles Anti-Terror-Lagezentrum, der BND und Verfassungsschutz haben aufgerüstet seit dem 11. September 2001, haben Menschen eingestellt, die Arabisch verstehen, fremde Kulturen kennen. Dennoch gibt derzeit der "Islamische Staat" (IS) den Takt vor, siehe das abgesagte Länderspiel von Hannover.

Das heißt: Die Sicherheitsphilosophie muss veränderten Gefahren folgen. Daher sollte man fragen: Was passiert eigentlich, wenn zwei mit Pistole, Pfefferspray und Handschellen bewaffnete Streifenpolizisten auf einen Gegner treffen, der mit Kalaschnikow und Sprengstoffgürtel zum Showdown antritt? Der IS-Killer versteht sich als Frontsoldat, seit er in Syrien war, ist er wirklich einer.

Er wird die Streifenbeamten wohl erschießen. So, wie die Brüder Kouachi im Januar den mutigen französischen Flic nahe der Charlie Hebdo-Redaktion ermordet haben, als er zu Hilfe eilen wollte. Seinen Namen haben wir alle längst vergessen: Ahmed Merabet. Er sei "wie ein Hund erschossen worden", klagte die Pariser Polizeigewerkschaft. Man kann also mit Recht über solche Dinge reden: Die französischen Polizisten etwa haben gefordert, mehr Maschinenpistolen zu bekommen.

Bei der Schießerei im Vorort St. Denis haben die Anti-Terror-Einheiten nun 5000 Schuss verfeuert, die Kugeln der Terroristen hat keiner gezählt. Man sollte das nicht Krieg nennen, das bringt nichts. Aber mehr als eine "außergewöhnliche Gefährdungslage" ist es. Bei Twitter und Facebook wunderten sich dennoch viele, dass sie vor dem Hannoveraner Stadion Polizisten mit Gewehren und Schutzwesten sahen.

Es ist ein sehr deutscher Reflex, dieses internalisierte, absolute Nein zum wehrhaften Staat. Ja, dem Staat ist in vielen Dingen zu misstrauen, vor allem in Sicherheitsfragen: wegen der deutschen Geschichte und, sehr aktuell, wegen NSU, Wikileaks, NSA. Mehr Staat bringt nicht immer etwas, siehe Frankreich nach Charlie Hebdo und vor dem 13. November. Aber überflüssig ist der gut gerüstete Staat deshalb noch nicht.

Muss ich diesem deutschen Staat grundsätzlich misstrauen? Zumindest ist diese offene deutsche Gesellschaft mit ihm und seinen Politikern - und oft auch gegen sie - geschaffen worden. Ich jedenfalls vertraue diesem Staat. Mehr jedenfalls als den Staatswesen, in denen ich für eine Weile unterwegs war und bei denen man besser erst gar nicht von Staat, sondern mit Grund nur von Regimen spricht. Ich jedenfalls lebe hier weder im wilhelminischen Obrigkeitsstaat noch im Orwell-Albtraum, geschweige denn unter Adolf Nazi oder in Stasi-Land. Ich lebe in der Bundesrepublik. Der Generalverdacht gegen "den Staat", das erinnert an Erwachsene, die Polizisten immer noch "Bullen" nennen.

Das Kalifat in Syrien und im Irak ist ein einziges Trainingslager. Tausende stehen bereit zurückzukehren

Vielleicht stellen sich im IS-Terror-Jahr 2015 andere Fragen? Der Staatsbürger ist der Souverän, der Träger dieses Staats. Er hat für den Bürger da zu sein, nicht nur bei Hartz IV und den Kitas. Bedarf es derzeit besser trainierter und bewaffneter Polizisten? Gut, dann muss ich mehr Steuern zahlen. Ist in den IS-Zeiten eine engere Zusammenarbeit europäischer Geheimdienste nötig, macht die längere Vorratsdatenspeicherung Sinn? Selbst darüber sollte man reden, solange jeder mitreden kann. Berechtigte Bedenken muss man deshalb nicht aufgeben. Aber diese Gesellschaft ist gefestigt. Wenn sie unter dem Eindruck der Gefahr Zugeständnisse macht, kann sie die dem Staat später auch selbstbewusst wieder nehmen.

Wehrlos gegenüber seinem Staat ist ein Ägypter oder Syrer: Dort hat die Obrigkeit einen Abgrund zwischen Bürger und Staat aufgerissen. Die Bundesrepublik ist anders. Wenn aber jetzt alle nur noch Angst vor dem Terror haben, rennen die Menschen vielleicht bald den falschen Propheten nach. Und die Rechten denken bei ihrem Geschwätz von der harten Hand an einen starken Staat ganz anderer Couleur.

Terror ist in Deutschland zwar nicht neu. Die RAF-Terroristen waren damals brandgefährlich, die bleierne Zeit war furchtbar. Aber heute sprechen wir nicht von Zellen mit ein paar Dutzend Linksterroristen, von ihren Sympathisanten an Universitäten und in Dichterclubs, von Gruppen mit internationalen Verbindungen. Das war schlimm genug: Sie haben Flugzeuge entführt, Bomben gelegt, ein Kaufhaus angezündet, mehr als 30 Menschen ermordet, darunter einen Bundesanwalt, einen Bankier, einen Spitzenmanager. Dennoch bleibt: Heute sprechen wir von Terroristen, die einfach auf alles und jeden zielen. Die Innenstadt von Paris in eine Schlachtbank verwandeln haben. Denen jedes Opfer recht ist. Das mit den beliebigen, wahllosen Zielen haben sie im Nahen Osten gelernt. Im Irak und in Libanon, da explodieren die Bomben nicht vor Palästen und Regierungssitzen. Sie detonieren in Moscheen und Kirchen, auf Märkten und in Cafés.

Das Kalifat in Syrien und im Irak ist ein einziges Trainingslager. Tausende europäische Dschihadisten stehen bereit zurückzukehren. Es sind Menschen mit übelster Expertise. Sie schneiden Köpfe ab, massakrieren im Dutzend, versklaven die Frauen und Töchter ihrer Opfer. Sie stammen aus Frankreich, Belgien, Großbritannien und Deutschland. Sie kommen aus den sozial problematischen Milieus unserer Städte. Milieus, die wir immer weniger verstehen. So wie Molenbeek in Brüssel. Nicht nur dort bilden sich die Salafisten-Szenen - 8000 Radikale soll es schon geben in Deutschland - in denen die zukünftigen Militanten geködert werden.

Man sollte seinen Gegner kennen, wenn man sich zur Wehr setzen muss. Dass die Dschihadisten bis an die Zähne bewaffnet sind, wissen wir nicht erst seit Paris. Dass Sturmgewehre und Sprengstoff relativ leicht zu beschaffen sind, auch. Inzwischen acht verhinderte Attentate in Deutschland in den vergangenen Jahren sind der Beleg dafür, bei einem Anschlag im März 2011 erschoss ein einsamer Wolf am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten.

Sinnlos, sich mit der Dschihadisten-Denke auseinanderzusetzen. Es geht nicht um den Islam, seine kulturelle Einzigartigkeit. Diese Männer und Frauen interessieren sich für das Wesen ihrer Religion ebenso wenig, wie sie unser manchmal seltsames, widersprüchliches, vielleicht auch angreifbares Weltverständnis begreifen. Zwanghaft und merkwürdig verklemmt für junge Menschen wittern sie überall nur Sünde und Frivolität: beim Musikantenstadl oder dem Literaturabend mit Klavierbegleitung. Oder, Gott bewahre, Alkohol, Club, FKK-Strand, Homo-Ehe. Als Lusterlebnis akzeptieren sie nur Gebet und Gewalt.

Verrückte? Nein, Dschihadisten sind nicht krank im Kopf. Sie sind religiös fanatisiert und politisch radikalisiert, was bei Islamisten ein und dasselbe ist. Ja, sie waren davor oft Kleinkriminelle, kommen oft aus sozialen Randgruppen, sind häufig ungebildet, hatten meist auch wenig Chancen. Das erklärt die Biografie, aber nicht die Ideologie. Innerhalb ihres engen ideologischen Rahmens handeln sie folgerichtig. Es gibt einen Feind, es gibt keine Fragen. Mehr als diese Blaupause ist da nicht. So funktioniert der IS-Terror, in Nahost und in Europa. Der Rest ist die Umsetzung, ob in Paris oder Hamburg: den Finger am Abzug, Druck auf den Zünder.

Zu denken, dass Schweigen schütze und erst die Frage nach Zielen die Leute auf falsche Gedanken bringe, ist weltfremd

Panikmache? Nochmals, nein. Beim IS kämpfen eine Menge Tschetschenen, sie werden als professionelle Kampfmaschinen verehrt. Ein Teil dieses kaukasischen Minivolks hat sich nach zwei entsetzlichen Kriegen mit Russland radikalisiert. Tschetschenen haben im Kampf gegen Russland ein Moskauer Theater besetzt, zwei russische Provinz-Krankenhäuser gestürmt, im Kaukasus eine Schule als Geisel genommen. Die Zahl der Toten ging in die vielen Hunderte. Die kaukasischen Dschihadisten werden ihren Gesinnungsgenossen schon erzählt haben, was wirklich weiche Ziele sind.

Natürlich heißt das nicht, dass es so kommen muss. Aber zu denken, dass Schweigen schütze und erst die Frage nach dem Schutz solcher Ziele die Leute auf falsche Gedanken bringe, ist weltfremd. Der IS denkt so: Wenn in Syrien Kinder sterben durch westliche Bomben, sollen gefälligst auch Kinder sterben in westlichen Ländern.

Gut 600 Deutsche sind in den Dschihad gezogen. Einige werden zurückkommen, brutalisiert, mit so ziemlich jedem Mordgerät zwischen Messerklinge und Mörsergranate vertraut. Die anderen Europäer, die Belgier, Franzosen und Briten sind da nicht mitgerechnet, es sind Tausende. Die Attentäter von Paris kamen aus Molenbeek in Belgien, sie fuhren gerade mal 300 Kilometer. Dieses Europa kennt keine Grenzen. Auch nicht für Dschihadisten.

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