ESC:Schöner Schas

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Conchita Wurst und die Folgen: Der Eurovision Song Contest in Wien sprengt schon jetzt alle Grenzen - medial, finanziell und politisch.

Von Cathrin Kahlweit

Die besten Anekdoten aus dem musikalischen Wien spielen, na klar, am Zentralfriedhof. John Lennon war, begleitet von Künstler und Multitalent André Heller, in einer Limousine auf dem Weg zum Flughafen, als sie am berühmtesten Friedhof Österreichs vorbeikamen. Der Weltstar wollte spontan das Grab von Franz Schubert besuchen. Im nahen Umkreis sah er auch all die anderen: Mozart, Beethoven, Hugo Wolf, Johann Strauß Sohn und Vater, Brahms, Gluck. Lennon legte einen Schnürsenkel auf das Grab von Schubert, "statt Blumen". Und Heller, selten um eine kluge Pointe verlegen, sagte zu ihm: "In musikalischer Hinsicht ist hier am Tag der Auferstehung der Nabel der Welt."

Aber dann kam erst einmal Conchita Wurst. Als sie 2014 beim Eurovision Song Contest triumphierte, brüllte Österreichs TV-Kommentator Andi Knoll in sein Mikro: "Jetzt hat uns die den Schas gewonnen!"

Ehrliches Entsetzen mischte sich da unverkennbar in die Euphorie, als Wurst schluchzend vor Glück im Glitzerkleid die Treppe zur Bühne emportrippelte. Viele Landsleute fanden die Diktion Knolls - Schas heißt auf Hochdeutsch Scheiß - unangemessen, aber dann doch: passend. Weil der Eurovision Song Contest eben nicht vergleichbar ist mit der Auferstehung. Nicht einmal mit Triumphen wie einem Nobelpreis oder dem Sieg in der Fußball-WM. Sondern letztlich eben nur ein Schlagerwettbewerb. Oder, wie Heller, der mittlerweile überwiegend in Marokko lebt, sagt: "Der ESC ist wie Konfetti. Man schaut hin, wenn es hübsch durch die Luft flattert, aber wenn es am Boden liegt, hat es eine gewisse Traurigkeit."

Ein schöner Schas also. Aber man kann ja aus allem was machen, wenn man muss.

Österreich befindet sich seit dem Sieg von Kopenhagen im ESC-Ausnahmezustand. Nicht nur, weil der Werbewert der Veranstaltung beachtlich ist, er beträgt etwa hundert Millionen Euro. Dafür müsste das Land, das auch vom Tourismus lebt, ziemlich viele Werbeprospekte drucken.

Es geht aber schon lang nicht mehr um die Wurst, sondern um die nationale Ehre. Die teils hysterische Erwartung, die an das internationale Gruppensingen gestellt wird, wächst mit jedem Jahr und jedem Austragungsland. Der Sieg eines Transvestiten mit Bart hat die politische Überhöhung noch einmal verstärkt. Nun soll der ESC nicht nur Gleichheit und Gerechtigkeit bringen, sondern am besten gleich den Weltfrieden. Verdammt hohe Erwartungen an ein Event, das Musik ist, und doch für Politik, Diplomatie, Ökologie, Menschenrechte, Zeitgeist und Lokalkolorit stehen will.

Vor Kopenhagen hatte das Votum einiger einsamer Entscheider beim Österreichischen Rundfunk (ORF), die Dragqueen Tom Neuwirth alias Wurst ins Rennen zu schicken, wilde Debatten und viele feindselige Reaktionen in den sozialen Netzwerken ausgelöst, von denen nach dem Triumph natürlich niemand mehr etwas wissen wollte. Hinterher war alles Diversity und Toleranz. Und es war klar, dass der nächste ESC in Österreich stattfinden würde. Oh je! Oder: Oh ja?

Für einen ausrichtenden Sender, der als Gastgeber, Organisator und Co-Finanzier auftritt, ist so eine Sache im besten Fall ein Imagegewinn. Aber auch: Ein Jahr lang Stress pur. Und teuer. Man kann nicht behaupten, dass die Veranstalter der Siegernationen vom jeweils vorangegangenen Jahr immer begeistert gewesen wären, dass sie gewonnen haben. Der ESC ist die größte Unterhaltungsshow im internationalen Fernsehgeschäft: Castings, Semifinales und das Finale eingerechnet, sind das viele Stunden aufwendiges Programm. 200 Millionen Zuschauer, 40 Teilnehmernationen mit 2000 Delegierten, 1700 Journalisten, hunderttausend Ticketinhaber und Fans, Hunderte freiwillige Helfer. In kleinen Ländern wird da schon mal hyperventiliert, wenn sich die twelve points, die douze points im Laufe des Abends häufen.

Luxemburg jedenfalls ist, nachdem es fünfmal gewonnen hatte, 1993 ausgestiegen. Zu kostspielig. In Estland musste 2002 die Regierung die Ausrichtung finanzieren, weil der öffentlich-rechtliche Sender mit der Einstellung seines Sendebetriebs gedroht hatte. Die Ukrainer gewannen 2004, im Jahr der orangenen Revolution, und mussten die Pensionsreform für ihre Bauern 2005 verschieben. Irgendwie mussten die Kosten für den ESC ja reinkommen. Diesmal tritt die Ukraine gar nicht an, obwohl andere Länder sogar für die Akkreditierungsgebühr zusammengelegt hätten. Ein Land in der Existenzkrise kann sich den ESC schlicht nicht leisten.

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(Foto: Milenko Badzic/ORF)

Wien im ESC-Fieber: Vorbereitungen in der Stadthalle...

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(Foto: Günther Pichlkostner)

...Tram-Werbung...

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(Foto: Georg Hochmuth/dpa)

...und die Multimedia-Show im "Vienna Sphere Dome".

Andererseits ist das Prestige des ESC, wenn es gut läuft, nicht zu unterschätzen. In Estland jedenfalls ging die Zustimmung zum EU-Beitritt nach dem Sieg deutlich in die Höhe, und die Regierung jubelte: Eine solche Kampagne, um das staubige postsowjetische Image abzuschütteln, hätte man sich nie leisten können. Es kann aber auch schiefgehen. Aserbaidschan verbaute viele Millionen in der Steppe, doch zum Schluss schrieben die internationalen Medien nur über Menschenrechtsverletzungen. Und ein amerikanischer Song-Contest-Experte bemerkte vor einigen Jahren in einem Aufsatz, der sich der hübschen Frage widmet, warum der Song Contest "lächerlich" sei, bissig: "Es ist paradox, aber während der Wettbewerb versucht, das Image einer transnationalen europäischen Kultur zu schaffen, verstärkt er in Wirklichkeit nationale Karikaturen."

Nun also Österreich. Nach dem Sieg von Udo Jürgens vor 48 Jahren landet die Veranstaltung erneut hier. Dass dieser ESC, der 60. in Folge, der beste aller Zeiten werden muss, gilt als ausgemacht. ORF-Fernsehdirektorin Kathrin Zechner, die für die Sache ehrlich brennt und sich auch den Erfolg von Conchita Wurst 2014 auf die Fahnen schreiben darf, sagt, der Eurovision Song Contest 2015 müsse "offen, herzlich, gastfreundlich, respektvoll" werden. Nicht nur das. Er solle zeigen: "Österreich ist Jetzt-Zeit." Auf der Welt werde vor allem das Traditionelle gesehen, auf das man zu Recht stolz sei. Jetzt gelte es, 200 Millionen Zuschauern in aller Welt zu vermitteln: "Dieses Land ist wirklich fein."

Aber das Image des Landes ist doch international nicht schlecht. Oder doch? Karen Fricker, Eurovision-Spezialistin aus Kanada, schreibt in "Conchitas Europa", diese komme aus einem zentraleuropäischen Land, das zuletzt vorwiegend mit "extremem Konservativismus" und dem Rechtspopulisten Jörg Haider assoziiert worden sei. Jetzt will das Alpenland also beweisen, dass Haider (2009 gestorben) Geschichte ist. Dass es mehr vorzuweisen hat als einen miesen Platz beim Wirtschaftswachstum in der EU (unter den letzten fünf) oder eine bankrotte Skandalbank (Hypo Alpe Adria). Und dass es mehr kann als Skifahren und Mozart aufführen, als Sisi-Museum, Philharmoniker und Klimt.

Den Österreichern gilt der Schlagerwettbewerb als tolle Chance, sich ganz neu zu präsentieren. Locker, modern, hip. Ganz schön viel Ballast für eine Show, in der nach wie vor fast jeder Song das Schema Intro - Verse 1 - Prechorus - Chorus - Verse 2 - Prechorus - Chorus - Bridge - Chorus - Coda bedient.

Schon jetzt haben die Beteiligten, der Sender, die Stadt Wien, das ganze Land, viel dafür getan, um diese gewaltige Chance zu nutzen. Dabei findet das Finale des Song Contests erst am Pfingstsamstag in der Stadthalle statt.

Aber das eine ist die Außendarstellung für ein internationales Publikum, das sich im "Zentrum europäischer Musikgeschichte", in der "kulturellen Metropole Zentraleuropas" oder "endlich wieder im Herzen Europas" wiederfinden soll. Das andere ist die Identitätssuche, die parallel zu der Planung betrieben wird.

Die Ergebnisse dieser Suche sind teilweise lustig oder originell, teilweise hysterisch. Und offensichtlich überfällig, sonst würde sich nicht die halbe Kulturnation am Identifikationsprozess via Popspektakel beteiligen. Im Leopold-Museum zeigt der Karikaturist und Bachmann-Preisträger Tex Rubinowitz Bilder der "absoluten Verlierer" aus früheren ESC-Jahren. Aus Wiener Kanaldeckeln erklingen ESC-Songs. 150 lebensgroße Song-Contest-Figuren werden in städtischen Parks in die Erde gerammt. Zehntausend "Herzelstecker" mit dem Slogan "12 Points go to . . . Vienna Parks" zieren die Rabatten. Sogar die Müllabfuhr wirbt mit einem "Eurowischn Putzcontest". Der Slogan - "Building Bridges" - findet sich auf jeder zweiten Zeitungsseite und Plakatwand, auf Taxis und Schaufenstern. Auf dem Rathausplatz steht ein ESC-Dorf, im Museumsquartier soll sich die Künstlerszene treffen. Und bei den Shows will man beweisen, was das "andere" Österreich kann.

Also tritt der Ausnahme-Percussionist Martin Grubinger im Finale auf. Der spielt auch in der Carnegie Hall. Von denen, die den ESC lieben, wissen das nur die wenigsten. Oder der Hip-Hopper Left Boy: Er ist in den USA eine Nummer - und außerdem der Sohn von André Heller. Das wissen auch die wenigsten. Der ORF ging diesmal in die Independent-Szene, um Kandidaten für das Heimspiel zu suchen. Fernsehchefin Zechner hatte anfangs Zweifel: "Die Frage war, ob sich die Szene für den ESC öffnen würde." Sie tat es, und die Sieger, drei nette, hochmusikalische Jungs, die Makemakes, sagen natürlich, es sei eine "Ehre, einem so historischen Beitrag wie dem vom Conchita nachfolgen zu dürfen" und den Titel "in der Heimat mit einem wahrlich großen Song" zu verteidigen.

Man gönnte sich auch ein "Kreativ-Team". Oft hat es nicht getagt, und einige der Teilnehmer sagen, viel sei auch nicht dabei herausgekommen, aber der Gedanke zählt. Also wurden Schauspieler und Museumsdirektoren, Dokumentarfilmer und Autoren angefragt. Sie sollten Widerworte geben, Korrektiv sein. Was fehlt? Machen wir zu viel? Ist das kitschig? Mal wurde die Moderation diskutiert (Zwei Frauen? Ein Paar? Mit oder ohne Conchita?). Zum Schluss wurden es drei Frauen plus Conchita. Wie kommt der Slogan "Building Bridges" an? Zechner hatte zeitweilig für eine Alternative plädiert: "Raise your voice".

Sabine Haag, Chefin des Kunsthistorischen Museums, wollte zum Beispiel ihr Museum, mitten in der Stadt und gegenüber dem Museumsquartier (MUQ) gelegen, als Veranstaltungsort eingebunden sehen - mit realen Brücken zum MUQ vielleicht, mit einer großen Show in jedem Fall, die Kunst, Wissenschaft und Musik verbindet. "Das hätten wir gekonnt, keine Frage." Blütenträume. Die Brücken werden virtuell sein, Lichtinstallationen. Vielleicht war die "Verbindung zum Allgemeingültigen", die sich Haag gewünscht hatte, doch ein bisschen zu viel Anspruch für ein Wettsingen. In ihrem Museum gibt es jetzt Führungen zu Bildern, die mit Musik zu tun haben.

Allein das Zuschauen bei den Anstrengungen macht schwindelig. Der ESC in Wien wird ein "Green Event", also so ökologisch und nachhaltig wie möglich. Und natürlich soll es "das größte Green Event werden, das je mit Umweltzeichen ausgerichtet wurde", so Umweltminister Andrä Rupprechter. Kongresse, Podiumsdiskussionen und Publikationen befassen sich mit der Frage: Wie politisch ist der Song Contest? Was sagt uns das über Europa? Und wo steht Österreich? Eine auffallend selbstbewusste Antwort gibt schon vorab der Generaldirektor des ORF, Alexander Wrabetz: "Es war mir wichtig, mit dem Motto ,Building Bridges' die inhaltliche Ausrichtung hin zu Vielfalt, Toleranz und Respekt vorzugeben. Letztlich habe ich ein Team von Profis zusammengestellt, das einen Song Contest gestalten wird, der Europa beeindruckt und Österreich stolz macht."

Wow. Aber natürlich geht es, ganz nebenbei, auch um Geld. Der ORF muss eigentlich sparen, es gibt eine heftige Debatte darüber, wo und wie. Der Vorstoß, ausgerechnet den Zuschuss zum renommierten Bachmann-Literaturpreis in Klagenfurt zu kappen, führte in der Intellektuellenszene des Landes zu Schnappatmung. "Aber für einen musikalisch mediokren Schlagerwettbewerb ist Geld da?", hieß es dann nach dem Wurst-Triumph so hämisch wie ratlos. Denn ablehnen lässt sich eine solche Kür natürlich nicht, es sei denn, man ist eine Einzelperson, heißt Andreas Kümmert und kommt aus Deutschland.

Der Leber-Kongress im Frühjahr habe mehr Leute nach Wien gebracht, lästert eine Expertin

Jetzt schauen also Millionen Menschen am 23. Mai nach Wien. Natürlich gab es auch Symposien im Vorfeld, die fragten: Wer verdient, und wer schafft an? Zahlen muss erst einmal der öffentlich-rechtliche ORF. Etwa 15 Millionen fließen in die Show, weitere zehn sollen durch Kooperationen und Sponsoren eingetrieben werden. Die Stadt lässt sich den Spaß mindestens zwölf Millionen Euro kosten. Und Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny appelliert an die Welt, das neue "Weichbild Wiens", das dabei gezeichnet werden soll, zu beachten: diese eben nicht nur extrem alte, sondern auch "extrem junge" Stadt mit ihren 200 000 Studenten. Es sei, betont der Sozialdemokrat, "kein Zufall", dass Conchita Wurst aus Wien komme. Dabei ist sie/er in Gmunden, Oberösterreich, geboren.

Hat Wien das nötig? Graz und Linz waren auch im Rennen gewesen für die Ausrichtung, riesige Freiflächen und sogar ein stillgelegtes Atomkraftwerk waren als Veranstaltungsort diskutiert worden, aber natürlich machte die Metropole mit ihren 60 000 Hotelbetten und der Stadthalle im Zentrum, direkt an der U-Bahn, das Rennen. Rund um den ESC finden unter anderem statt: der Life Ball, die Wiener Festwochen, 150 Jahre Ringstraße, 200 Jahre Wiener Kongress, 650 Jahre Universität Wien. Eine Tourismusmanagerin, die angesichts des Hypes lieber ungenannt bleibt, merkt bissig an: "So große Dinger machen wir doch ständig. Der Leber-Kongress im Frühjahr hat mehr Leute in die Stadt gebracht."

Irre genug: Im Herbst sind in Wien Landtagswahlen. Vor dem ESC wurde in der SPÖ ernsthaft diskutiert, ob man die Wahl in den Juni vorverlegen solle - unter anderem, um von der Begeisterung für die Pop-Party zu profitieren. Es blieb dann doch alles beim Alten. Aber vom Zentralfriedhof hallt, stellvertretend für Sender, Stadt und Land, ein programmatischer Satz vom berühmtesten Kanzler der zweiten Republik, Bruno Kreisky, in die Welt: "Sie glauben gar nicht, wie viel Lob ich vertragen kann."

© SZ vom 16.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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