Deutschlandreise, Folge 9:Heinrich Heines Heimsuchung

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Die Harzreise ist ein Höhepunkt der Reiseliteratur. Sie führte den kritischen Dichter aus dem von ihm nicht gut gelittenen Göttingen hinaus: die persönliche Geschichte einer Hassliebe.

Von Harald Hordych

Mit Heine ist kein Geschäft zu machen. Zumindest wenn man Marketingchefin der Stadt Göttingen ist. Es gibt zugegebenermaßen auch weitaus Schlimmeres aus Sicht von Angelika Daamen, denn die Universitätsstadt zwischen Kassel und Hannover hat einen ebenso reichen Bestand an facettenreich ausgeschmückten Fachwerkhäusern wie an Nobelpreisträgern vorzuweisen. Und sie kann den berühmten Mathematiker Carl Friedrich Gauß bieten, "den die amerikanischen Besucher viel besser kennen".

Den schwierigen deutschen Dichter Heine, der hier seinen Doktor in Jurisprudenz machte, diesen melancholischen Spötter und leichtfüßigen Grübler aber versteckt das Stadtmarketing Göttingen. Es gibt unter den 1200 jährlichen Stadtführungen nur wenige, die sich Heine widmen. Ja, sagt Angelika Daamen, "so ganz leicht macht Heine es uns ja auch nicht."

Und dabei hätte Heine für Göttingen zum Glücksfall werden können.

Kaum ein Stück deutsche Reiseliteratur ist so berühmt geworden wie Heines Aufzeichnungen seiner Harzreise, die ihn vom 14. bis 21. September 1824 von Göttingen über Goslar zum höchsten Berg des Harzes, den Brocken, führte. Danach setzte er diese Reise noch weiter fort, nach Eisleben, Halle, Jena und Weimar. In den Reisenotizen, die Heine als Fragment bezeichnet, endet die Reise aber bereits nach acht Tagen mit dem Abstieg vom 1400 Meter hohen Brocken. Anfang 1826 veröffentlichte die Zeitschrift Der Gesellschafter Heines Aufzeichnungen in 14 Fortsetzungen, und noch im selben Jahr bilden sie den ersten Teil der "Reisebilder".

Wo beginnt die Harzreise? In Göttingen. Wo endet sie? In Göttingen. Wo lebte Heine? In Göttingen. Beste Voraussetzungen für eine literarische Liebeserklärung. Leider - aus Sicht Göttingens, nicht aus Sicht des amüsierten Lesers - hat Heine die Stadt aber offenbar genauso gehasst wie sein Jurastudium. Darum beginnt dieser berühmte Text mit einer Kriegserklärung an Göttingen, aus der selbst der geschickteste Stadtmarketingexperte kein liebevolles Wort für die städtische Website destillieren könnte: Selten sind eine Stadt und ihre Bewohner so in des Dichters Reißwolf geworfen worden wie das arme Göttingen, nachdem Heine sich früh am Tag auf den Weg zum Weender Tor macht, um jene Reise anzutreten.

Die Stadt Göttingen sei, so Heine, "berühmt durch ihre Würste und Universität"; sie "gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht". Und weiter: "Die Zahl der Göttinger Philister muss sehr groß sein, wie Sand, oder besser gesagt, wie Kot am Meer". Heines Wanderungen durch den Harz sind Wanderungen mit Göttingen als schweres Gepäck. Egal wo er ist, Heine denkt an Göttingen: Beim Essen in Northeim denkt er an das Göttinger Essen. Wenn er träumt, träumt er von der Universitätsbibliothek, und wenn er jemandem etwas erzählt, dann vom Dekret des Göttinger akademischen Rates. Heine macht mit Göttingen, was man heute sich an etwas abarbeiten nennt. Die Wut soll weg, die Wut auf die Bewohner Göttingens, welche nach seiner Lesart in vier Stände unterteilt sind: Studenten. Professoren, Philister und Vieh. Heines Fazit: "Der Viehstand ist der bedeutendste."

Wo so viel Häme ist, muss auch viel Kränkung sein. Was war bloß an den Göttingern so Schlimmes?

Wie ist das eigentlich? Muss sich Göttingen mit einer 200 Jahre alten Kritik herumschlagen?

Dr. Ernst Böhme sitzt in einem fürstlichen Gebäude, das aus der großen Zeit Göttingens stammt. "Göttingen. Stadt, die Wissen schafft" steht auf seiner Visitenkarte. Böhme ist seit fast 20 Jahren Leiter des Stadtarchivs, vor zehn Jahren kam noch die Leitung des Städtischen Museums dazu. So einen Göttingen-Experten braucht es jetzt. Man weiß ja, dass Heine nicht gern studiert hat, dass ihn die Familie zwang, das Studium abzuschließen. Aber ist das allein ein Grund, ganz Göttingen in literarische Sippenhaft zu nehmen?

Böhme ist ein so strukturiert denkender Mann, dass er einem sofort einen erklärenden Handzettel überreicht, als man sich nach den Porträts an der Wand seines Büros erkundigt, jetzt holt er zu einem fulminanten Bogenschlag aus, der 1780 beginnt und ohne Aussetzer in der Gegenwart endet, nämlich bei der Frage, ob man sich als Göttinger mit einer Kritik herumschlagen muss, die fast 200 Jahre alt ist.

Als Heine 1821 zum ersten Mal nach Göttingen kommt, ist sie nicht einfach die behagliche Fachwerkstadt, in der man als Tourist viele Stunden wunderbar mit Flanieren verbringen kann. Göttingens Reputation als Universitätsstadt ist der von Harvard oder Cambridge gleichzusetzen. "Eine Weltuniversität", sagt Böhme. Der gebürtige Göttinger schlägt sich tatsächlich ans Herz, als er sagt: "Ich liebe meine Heimatstadt." Aber es ist keine blinde Liebe, dem Lob wird noch Tadel folgen.

Heine kommt also in die Stadt, deren akademische Einrichtungen Weltruf genießen. Böhme sagt: "Ein Geist des Fortschritts und der Aufklärung und der Moderne hatte hier geherrscht!"

Sehr gut! Aber wieso "hatte"?

Als Heine nach Göttingen kam, erklärt Böhme, war der Ruf gewaltig, aber die beste Zeit gerade vorbei. "Wenn er 1780 gekommen wäre, dann hätte er ganz viel Aufbruch der Wissenschaft erlebt: In dieser Zeit ist hier die Veterinärmedizin, die Frauenheilkunde erfunden worden. Professoren wurden nach Göttingen geholt, um Gebiete für die Wissenschaft erstmals akademisch zu etablieren."

Göttingen war Avantgarde, Heine aber erlebt die Biedermeier-Phase. Als er sein Studium aufnimmt, ist die Institutionalisierung vorangeschritten, die Professoren sind schon Jahrzehnte da. Man ruht sich auf den Erfolgen aus. Und am schlimmsten sind, laut Böhme, die Bürger ohne akademischen Hintergrund, die in der kleinstädtischen Provinz leben und sich viel auf den Weltruf der Uni einbilden. Der Jude und Künstler Heine stößt auf Engstirnigkeit und Borniertheit. Und er bleibt ein Außenseiter. Auch weil die Universität eine Eliteuni sein will, die mit hochwertigen Freizeitangeboten wie Fechthallen adlige Studenten in die Stadt lotst.

Bildungsphilisterei, akademischer Stillstand und provinzielle Aufgeblasenheit - das gekränkte Genie Heine bläst zum literarischen Gegenangriff.

Angelika Daamen findet ja, dass er der Stadt auch noch in der Schmähung ein literarisches Denkmal gesetzt hat. In der Tat, selten ist der heimeligen deutschen Provinz so geistreich heimgeleuchtet worden. Die Zeiten seien ja nun lange vorbei, sagt Daamen. Das klingt schon moderner: Bad news sind immer besser als no news.

Aber während man mit Böhme einen Spaziergang durch Göttingens Altstadt macht, in der alle Fakultäten mitten in der Stadt lagen und viele Professoren ihre Vorlesungen in den Hinterzimmern von Gastwirtschaften abgehalten haben, sagt der schwungvoll erzählende Archivleiter, dass das Göttingen Heines keinesfalls verschwunden sei. "Die provinzielle Arroganz und Hybris, sich immer mit den größten Universitäten der Welt zu messen und sich für den Nabel der wissenschaftlichen Welt zu halten", sei bis heute eine Schwäche Göttingens. Dass der systemkritische Außenseiter Heine zum Stadttor hinausmarschierte und Göttingen dort ließ, wo er es wohl am liebsten hatte, nämlich hinter sich, ist mit etwas Einfühlungsvermögen durchaus nachvollziehbar - mehr jedenfalls, als es dem selbstbewussten Göttingen lieb sein kann.

Also raus aus Göttingen! Und nun? Die Harzreise im Geiste Heines nachzugehen ist streng genommen unmöglich. Es ist vor allem eine innere Reise, in seine Erinnerungen, Verletzungen und Kränkungen, in die Kindheit in Düsseldorf. Und als das Reisetagebuch eines scharf beobachtenden Einzelgängers ist es ein Zeitdokument. Einerseits flieht Heine vor den Menschen, weil sie ihm unerträglich sind (Göttinger vor allem). Andererseits ist er von nichts mehr fasziniert und gebannt als von jenen Leuten, die ihm auf dieser Reise begegnen. Keiner ist ihm zu gewöhnlich, um nicht für eine ausführliche Beschreibung herzuhalten: wie der reisende Handwerksbursche, der auf so drollig rührende Weise Volkslieder singt, dass Heine zu dem Schluss kommt: "Das ist schön bei uns Deutschen; keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht." Dieses Panoptikum von Wichtigtuern, Schwadroneuren, Spießbürgern auf der Durchreise - das alles ist für den heutigen Wanderer verloren. Es sei denn, er entdeckt sein eigenes! Und es hilft auch nicht, auf das Nachempfinden der Natur- und Baudenkmäler Heines zu hoffen: Bei Heine singen die Vögel, die Wälder sind grün, der Himmel ist blau. Stationen wie Nörten, Northeim, Osterode sind ihm nicht mehr als allgemeine Randbemerkungen wert, die schon wieder Kunst werden, so lakonisch lässt er sie zurück: Osterode? "Diese Stadt hat soundso viel Häuser, verschiedene Einwohner, worunter auch mehrere Seelen, wie in Gottschalks Taschenbuch für Harzreisende genauer nachzulesen ist."

Bevor Heine sein Ziel erreicht, den Brocken, wo ihm ein riesiger Bronzekopf als Denkmal gesetzt worden ist, kommt er durch Clausthal-Zellerfeld. Zu jener Zeit waren diese beiden Städte das industrielle Herz Niedersachsens. Silber wurde über Jahrhunderte im großen Stil gefördert, aber auch Blei und andere Erze. Dieser Ort nimmt in Heines Menschenerzählungen einen besonderen Platz ein; Heine wird nun zum Sozialreporter, er fährt in zwei Gruben ein, was seinerzeit nur über beschwerliche Leitersysteme möglich war. Und er besucht auch die Bergarbeiter, "diese wackern Leute" und "betrachtete ihre kleine häusliche Einrichtung". Die einzigen Menschen, die Heines ätzendem Spott entgehen, sind die Bergarbeiter von Zellerfeld. Im Bergbaumuseum begreift man, dass Heine keine lieblich bewaldeten Hügelketten durchwandert, sondern eine kahl geschlagene, verwüstete Mondlandschaft durchmisst.

Heinrich Heine: Die Harzreise, 1826. In der Serie "Deutschlandreise" besuchen SZ-Autoren Städte und Regionen anhand historischer Werke. Bisher: Zugspitze; Spessart; Rügen; Weimar; Schwarzwald; Passau; Bad Godesberg; Pfaffenwinkel. (Foto: N/A)

Wie dem wenige Kilometer entfernten Goslar brachten Silberschätze Clausthal-Zellerfeld großen Wohlstand. Hier steht die größte aus Holz gebaute Kirche Deutschlands. Goslars Marktplatz ist von atemberaubend schönen Fachwerkhäusern gesäumt. Heine aber lässt kein gutes Haar an Goslar. Er erwartet eine imposante, stattliche Stadt. Und mit welchem Ergebnis? "Ich fand ein Nest mit meistens schmalen, labyrinthisch, krummen Straßen." Der idyllisch verklärte Blick der Moderne geht ihm natürlich ab: Fachwerkhäuser sind klein, eng und dunkel. Heine denkt an die Menschen, die dort leben müssen, nicht wie die Schöngeister, die auf den Spuren des zerstörten Weltkriegs-Deutschland hier der verlorenen Vergangenheit auf die Spur kommen können.

Mit dem Buch reisen heißt am besten beim Gehen einfach denken, was man denken will

Am Ende wartet der Brocken auf den Dichter. Da kann man sich Heine dann tatsächlich nahe fühlen. Nicht unbedingt, weil der lohnenswerte Weg von Ilsetal den Berg hinauf nach ihm benannt ist. Schon eher, weil es keine Chance gibt, ihn mit modernen Mitteln abzukürzen. Näher als auf 11,5 Kilometer Distanz zum Gipfel kann man mit dem Auto an keiner Stelle ranfahren. Wie zu Heines Zeiten geht es jetzt nur noch zu Fuß weiter, neun Stunden sollte man für An- und Abstieg einplanen. Oder aufs Mountain Bike steigen, das man an etlichen Stellen wegen vieler Granitbrocken und gewaltiger Wurzeln aber eh schieben muss. Klar, steht ja schon in der Harzreise: "Der Weg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersät und die meisten Bäume mussten mit ihren Wurzeln diese Steine umranken."

Heine findet "Quellengemurmel" und das "ruhige Herzklopfen des Berges". Und auf dem flachen Gipfel im Brockenhaus mannigfaltige Gesellschaft, die ihn wieder von jungen Damen, deren Müttern, naturbegeisterten Zimmergenossen und dampfenden Punschbowlen erzählen lässt, die dazu führen, dass an seinem Tisch "getrunken, smolliert und gesungen" wurde. Die Menschen sind Heines bestes Studien-, Erlebnis- und Erkenntnismaterial. Deswegen handelt man vielleicht am besten im Geist dieses Buches, wenn man verfährt, wie eine Frau auf dem Anstieg rät: "Man denkt auf diesem Weg nicht an Heine. Aber wie Heine kann man es schon machen: Beim Gehen denken, woran man denken möchte."

Die Harzreise ist auch eine symbolische Reise in die Freiheit. Und ein Manifest für einen freien Geist in einer engen Zeit. Da stört auch nicht, dass der Reporter auf dem Brockengipfel von Nebel umhüllt und der Blick in die Ferne nur in der Fantasie möglich ist.

© SZ vom 02.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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