Deutschlandreise:Es war einmal eine Stadt

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In Bad Godesberg haben Jahrzehnte der Planungswut eine der schönsten Altstädte des Rheinlandes vernichtet. Folge 7 der SZ-Serie.

Von Joachim Käppner

So muss das einmal gewesen sein. Schon lange hatte man die Burgruine gesehen, hoch auf ihrem Hügel über dem schönen Städtchen. Man kam von Bonn her, durch Felder, Wiesen, an hübschen Landsitzen vorbei und Obstbäumen, am gotischen Hochkreuz, dann leuchteten die Giebel von Godesberg in der Oktobersonne, und das Ziel des Marsches war nah: Das alte Gasthaus "Zur Linde". Was den durstigen Besucher dort an Freuden erwartete, dichtete Wilhelm Ruland 1896:

"Trefflich mundet's an den weißen

Kreuzbeintischen dort im Garten,

Wenn in kühlen Krügen ausschenkt

Edles Maß die Lindenwirtin.

Wonnig läßt und wundersam sich

Träumen unter Lindenbäumen."

Dem heiteren Glück des Ortes und des Augenblicks widmete der Bonner Ruland seine Dichtung "Ännchen", eine melancholisch-kitschige Liebesgeschichte um die schöne Wirtstochter und spätere, bis 1935 wirkende Gebieterin des Gasthauses, nach der es dann benannt wurde. Vor dem Ersten Weltkrieg war es eines der beliebtesten Studentenlokale des ganzen Deutschen Reichs, und Anne, die Wirtin, war Kult, wie man heute sagen würde. Damals klang das etwas schwülstiger:

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(Foto: Joachim Käppner)

Es war einmal eine Altstadt. Nicht die Bomber der Royal Air Force haben Bad Godesberg zerstört. Es waren die Stadtplaner.

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(Foto: Sonja Marzoner)

Jahrzehnt um Jahrzehnt haben sie die Innenstadt verhunzt im Namen der Moderne - wie am Michaelplatz in der Innenstadt.

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(Foto: Sonja Marzoner)

Wer heute durch die City wandert, gewinnt den Eindruck, diese sei eine Art Strafkolonie für die unbegabtesten Architekten der Nachkriegszeit gewesen.

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(Foto: Sonja Marzoner)

Natürlich, Bad Godesberg, das heute zu Bonn gehört, hat an seinen Rändern sehr schöne Seiten: Aber die Innenstadt ist perdu.

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(Foto: Sonja Marzoner)

Enge Gassen waren das und schmale Häuser, winzige Höfe - heute sieht man, wohin man blickt, nur epochale Hässlichkeit.

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(Foto: Sonja Marzoner)

Da hilft auch das Blumenbouquet am Eingang der Kammerspiele nicht viel.

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(Foto: Sonja Marzoner)

Es ist ein Spaziergang zu Orten, die unwiderruflich verloren sind. Es war einmal eine Stadt.

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(Foto: Sonja Marzoner)

Überreste der Altstadt, wie die hübsche Fassade der ehemaligen Likör-Fabrik, gehen zwischen Grau, Zement und Billigshops unter.

"Wißt ihr, wer die Wirtin war,

schwarz das Auge, schwarz das Haar?

Ännchen war's, die Feine.

Wißt ihr, wo die Linde stand,

jedem Burschen wohlbekannt?

Zu Godesberg am Rheine."

Tja. Wo die Linde stand. Das "Aennchen", 1973 um einige Meter mitten auf eine Kreuzung versetzt, ist noch da, das schon. Unter dem tiefgezogenen Dach wirkt das einsame, alte Haus, als ducke es sich vor der epochalen Hässlichkeit seiner Umgebung. Es rauscht nicht die Linde, sondern der Verkehr. Direkt hinter dem "Aennchen" führt eine mehrspurige Straße unter einem scheußlichen Betonriegel hindurch stadtauswärts. Grau, Zement, Billigshops. "Livewette Bet 90", Al Arabiyah-Grill, ein verlassenes "Erotik-Kino". "Die Linden flüstern", schrieb Ruland. Sie flüstern schon lange nicht mehr.

Es war einmal eine Altstadt. Nicht die Bomber der Royal Air Force haben Bad Godesberg zerstört wie so viele andere Orte, nicht die heftigen Kämpfe um das Rheinland im Frühjahr 1945, vor denen es wundersam verschont blieb. Es waren die Stadtplaner. Jahrzehnt um Jahrzehnt, seit 1960, haben sie ihre Innenstadt verhunzt im Namen des Fortschritts und der Moderne. Wer heute durch die City wandert, gewinnt den Eindruck, diese sei eine Art Strafkolonie für die unbegabtesten Architekten der Nachkriegszeit gewesen.

Es ist eine Freude, aber auch eine Last, mit Wilfried Rometsch durch die zugigen Straßen zu gehen. Er ist Ortshistoriker, hat das leider vergriffene Buch "Die Geschichte von Bad Godesberg" geschrieben und weiß, was bis wann wo gestanden hat in dieser Altstadt, die nur noch so wenig Altes hat. Daher die Last. Es ist ein Spaziergang zu Orten, die unwiderruflich verloren sind. Es war einmal eine Stadt.

"Das Eigentümliche an der Sanierung ist", sagt Rometsch, "dass sie gar keinem Plan folgte, niemals aus einem Guss war. Jede neue Generation von Stadtplanern nach dem Krieg hat einfach weitergemacht." In Beton brutal.

Natürlich, Bad Godesberg, das heute zu Bonn gehört, hat sehr schöne Seiten: die barocke Redoute, in Verkennung der Zeitläufte vom letzten Kölner Kurfürsten, Max Franz, von 1792 an als Kurhaus erbaut, während nebenan in Frankreich die Köpfe der Adeligen unter der Guillotine lagen. Das Theater, nun von der Schließung bedroht, die Trinkhalle des Kurbades und die hübsche 50er-Jahre-Stadthalle im Stadtpark. Das grandiose Villenviertel aus der Gründerzeit, zwischen City und Rhein; verträumte alte Dorfkerne in den Vororten, das Flussufer mit dem Blick aufs Siebengebirge, die alte Burg mit dem elegant eingepassten Restaurant. Aber die Innenstadt ist perdu. Enge Gassen waren das und schmale Häuser, Toiletten auf halbem Stockwerk, winzige Höfe, "Jefrickels" nennt Rometsch in schönem Rheinisch die Kleinteiligkeit von einst, das "Knolleveedel" der Handwerker und kleinen Leute; das Ganze geduckt tief unter der Burg, die einst Schutz und Bedrängnis zugleich verkörperte.

Ganz am Rande der Altstadt, am Äuelchen, fließt offen ein Stückchen Godesberger Bach, darüber ein hübsches Fachwerkhaus; eine winzige Ecke der alten Stadt. Auf einem Querbalken steht: "Bewahr mich Gott vor Leid und Feuer, vor Krieg und allzuvieler Steuer." Leider hat der fromme Wunsch nicht die Planungswut der Bürokraten berücksichtigt, die offenbar von allen guten Geistern verlassen waren. Den Ungeist der Zeit spiegelt ein Beitrag der Bonner Rundschau von 1966 wieder, welche die Altstadt beschreibt als "schmale Gassen mit verfallenen Mauern, alten, angegammelten Häusern und hässlichen Wellblechdächern, auf denen der Rost seit Jahrzehnten seine Tagesration benagt. In Godesberg fehlen zwar die Slums, aber der hässlichen Ecken gibt es genug."

Vom "Aennchen" durch die Burgstraße. In den Sechzigern schlug die Abrissbirne die alten Häuser links und rechts fort, die Straße wurde verbreitert und mit Quaderbauten flankiert, mit denen verglichen die Maginotlinie ein romantischer Ort ist. Auch in der Burgstraße stehen die Geschäfte leer. Niemand, der nicht muss, geht hier freiwillig entlang, zudröhnt vom endlosen Strom der Autos. Auf den Planzeichnungen der Architekten mag das Ensemble einst einen gewissen, an Großmeister des neuen Bauens wie Le Corbusier erinnernden Reiz gehabt haben. In der Realität war es vom ersten Tag an eine grässliche Missgeburt des Städtebaus.

Rometsch hat bei seinen Archivrecherchen "vergeblich nach Spuren dafür gesucht, dass die Verantwortlichen in den 1960er-Jahren eine auch nur annähernd wirklichkeitsnahe Vorstellung davon hatten, wie sich Struktur und Erscheinungsbild der Altstadt nach dem Abzug der letzten Bauarbeiter darstellen könnten". Fortschrittsglaube war zur Ideologie geronnen. Und für die Ideologie hat sich die Wirklichkeit dem Wunsch zu beugen. Städte wie Goslar, Bamberg, das nahe Linz haben das Alte sorgsam bewahrt, heute schlagen sie Kapital daraus. Bad Godesberg ist den radikal entgegengesetzten Weg gegangen. Die Linden weinen.

Jede neue Generation hat mit den Mitteln ihrer Zeit noch einen draufgesetzt, im wahrsten Sinne des Wortes übrigens. Das Burg-Center, erbaut bis 1980, überragt die Fußgängerzone in pissoirbraun gekachelten Fassaden. Ein urbaner Begegnungsraum sollte hier über der Stadt und unter der Burg entstehen, mitentworfen vom Stararchitekten Gottfried Böhm, eine städtebauliche Verbindung zur Burg geschaffen werden, eine Verbindung, die es nie gegeben hatte. Die Burgherren legten, wie es Art von Burgherren war, keinen größeren Wert auf leichten Zugang durch die da unten.

Kaum jemand außer versprengten Touristen geht von der Innenstadt hinauf zum Altstadt-Center und von dort aus den steilen Weg hoch zur alten Festung, von deren Bergfried aus das ganze Elend schön zu überschauen ist. Das Center, ein Labyrinth aus Betonwegen, Straßenübergängen, dunklen Winkeln und vermüllten Treppen ins Nirgendwo, ist bereits ein Sanierungsfall, die Ladenbesitzer haben lange aufgegeben. "Wer geht zum Shopping schon gern ins Gebirge?" höhnte der Spiegel schon 1981. Man kommt auf vielen Stufen hinauf, die merkwürdig unbequem zu nehmen sind. Ein paar arabische Jungs nehmen die Gegenrichtung mit ihren Rollerblades, offenbar als Mutprobe.

Im neuen Bad Godesberg stehen viele Läden leer, andere bieten Junk und Billigzeugs an. Die alten Fachgeschäfte sind fast alle weg. Die halb verlassene "Arcadia"-Passage mit ihren Betonwinkeln gleich beim "Aennchen" harrt noch ihrer Entdeckung durch einen Location Scout für Gruselfilme. Ja, es gibt einen schönen Buchladen in der Bahnhofstraße, eine Confiserie, ein paar nette Kneipen. Der relativ neue Kinokomplex gegenüber dem Markt aber sieht aus, als sei der schwarze Turm von Mordor zur Seite gekippt. Diese jüngste Ausgeburt von Scheußlichkeit ist immerhin viel besucht. Rheinländer verstehen es ohnehin, es sich überall gemütlich zu machen, sich noch auf den hässlichen Theaterplatz zu setzen, am Bierschen zu nippen und zu seufzen: "Härrlisch!" Noch herrlicher wäre es, wenn "Jodesbärsch" nicht so unansehnlich wäre, dass der Traum heutiger Lokalpolitiker, "ein neues Baden-Baden" aus dem Stadtteil zu machen, rührend anmutet. Vor allem bei Arabern ist Bad Godesberg wegen der Bonner Fachkliniken sehr beliebt, und manches Schaufenster hat Schleier im Sonderangebot.

Haben sich die Godesberger nie gewehrt gegen die Zerstörung der Altstadt? "Eigentlich nicht", sagt Rometsch und denkt nach. Anhörungsrechte wie heute gab es anfangs wenige, und "die Leute waren noch an Befehle von oben gewohnt, von der Nazizeit her, und dachten: Die machen datt schon."

Flucht zur Lindenwirtin. Öffnet man die Tür, ist es wie in einer Zeitschleuse. Stuckdecke, dunkles Holz, verzierte Fenster, an den Wänden hinter Glas Hunderte Postkarten, die Bonner Studenten einst ihrer Lieblingswirtin schrieben. 9000 Stück davon horte das Stadtmuseum, erzählt der Maître gut gelaunt. Seine Speisekarte trägt vorn ein schlichtes "n.": So legendär war das "Aennchen", dass 1902 ein Brief aus China ankam, obwohl nur "n. / Deutschland" als Adresse angegeben war.

Heute bietet das Haus gehobene Küche, und niemand singt mehr wüste Trinklieder. Im kleinen Garten des Lokals aber kann man an einem schönen Sommerabend fast vergessen, was mit dieser Stadt geschehen ist. Die mächtige Linde legt beschützend ihre Arme über das Haus, der Grillmaster legt mit sichtlicher Freude an seinem Tun neue Flank Steaks auf, am Nebentisch der heitere Singsang des Rheinischen: "Da hann isch dä Doof jesaach: Hürens, hann isch jesaach . . .". Zum Abschied sagt der Wirt: "Wir sind hier wie ein Fels in der Brandung." Und er meint die Brandung der neuen Hässlichkeit, die den Gast anfällt, kaum dass er hinaustritt auf die Straße.

"Seitdem trieb manch Jahrhundert / Im Zeitenstrome fort", schrieb Ruland. Schräg gegenüber vom "Aennchen" steht der "Lindeblock", bestehend aus einem Riesenblock von Gebäude und einer aufs Flachdach gesetzten Linde. Kürzlich ist sie eingegangen. Gleich einem umgekehrten alten Besen ragen ihre Äste in den Himmel wie ein höhnischer letzter Gruß an die Vergangenheit, die man hier in den Zeitenstrom gekippt hat wie Unrat.

© SZ vom 25.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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