Das Geheimnis:Rätsel der Möwe

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Edna Purviance war eines der schönsten Gesichter des Stummfilms. Chaplin, der mit ihr liiert war, hat viele seiner frühen Filme mit ihr gedreht. (Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Der Film des Regisseurs Josef von Sternberg "A Woman of the Sea" mit dem Stummfilmstar Edna Purviance wurde einst von Charles Chaplin zerstört -nahezu niemand hat das Werk gesehen. War da vielleicht auch Eifersucht mit im Spiel?

Von  Fritz Göttler

Nichts geht über die Wonnen des Nullpunkts. Man hat abgeschlossen mit einer Phase seines Lebens, macht sich keine Illusionen mehr darüber und keine über die Zukunft, ist offen und frei. So ist es dem jungen Josef von Sternberg gegangen nach seinen ersten Versuchen im Filmgeschäft. Er hatte seinen ersten Film fertig, "The Salvation Hunters", außerhalb der Hollywood-Produktionsmaschine gedreht, mit wenig Geld und einer Menge Eigeninitiative, ein Film über einfache Menschen am Hafen, viele Laien spielen, und der Hauptakteur war ein riesiger Bagger. Der Produzent war eingeschlafen, als Sternberg ihm den Film zeigte, bei der ersten öffentlichen Vorführung hatte es Aufruhr gegeben, bei der zweiten nicht, und am Morgen danach saß Sternberg zufrieden in einem Lokal am Hollywood Boulevard und nahm sein Frühstück ein. "Meine Regiekarriere war zu Ende, und ich hatte Frieden geschlossen mit der Welt. Mein Geist hatte sich mit dem Versagen abgefunden." Schreibt Sternberg in seinen Erinnerungen "Fun in a Chinese Laundry", in seinem lässig abgeklärten, fast zenhaften Ton. Und erzählt, wie von diesem Nullpunkt aus dann doch noch eine Hollywood-Karriere sich entwickelte, die wenige Jahre später Erfolgsfilme wie "Der Blaue Engel" oder "Shanghai Express" mit Marlene Dietrich hervorbrachte.

Diesen Film umgibt ein Geheimnis, das weit übers Kommerzielle hinausreicht

Erzählt, wie plötzlich ein Mann an seinen Tisch trat und sich zu ihm setzte - Charles Chaplin. Und wie es zur Zusammenarbeit von Josef von Sternberg und Charles Chaplin kam und zu dem Film "A Woman of the Sea", den niemand sehen durfte. Verschwundene, verstümmelte, verlorene Filme aus der Frühzeit des Kinos gibt es zu Tausenden, das Kino war damals immer noch reines Geschäft, erst allmählich begann man die Kunst darin zu ahnen. Aber "A Woman of the Sea" umgibt ein Geheimnis, das übers Kommerzielle hinausreicht.

Chaplin hatte die "Salvation Hunters" in der Nacht gesehen - es gab zwar keine DVDs und kein Streaming damals, aber jeder ordentliche Filmemacher hatte einen eigenen Projektionsraum in seiner Villa, in dem er nach Lust und Laune wichtige und neue Filme anschauen konnte -, und auch sein Kumpel Douglas Fairbanks hatte sie gesehen, beide waren begeistert und wollten nun, dass Sternberg den neuen Film mit Mary Pickford machte, die Amerikas "Sweetheart" und Superstar war. Es wurde dann zwar nichts mit diesem Pickfordfilm, aber Sternberg sollte für Chaplin als Produzent einen Film drehen, der ers mal "Sea Gulls" oder "The Sea Gull" hieß und später in "A Woman of the Sea" umgetitelt wurde. Eine Art labor of love, für Chaplin, denn die Hauptrolle sollte Edna Purviance, die ihm in Dutzenden frühen Kurzfilmen in den Zwanzigern zur Seite gestanden hatte - und die er zuletzt in dem viel gerühmten "A Woman of Paris" inszeniert hatte.

Sternbergs Story von der "Sea Gull" ist altbewährt, zwei Schwestern in einem Fischerort, die eine verfällt einem Schriftsteller aus der Stadt und zieht mit ihm fort, die andere - Edna Purviance - heiratet einen Fischer, dann kommt die Schwester zurück und will ihr diesen ausspannen. In der ersten Hälfte von 1926 hat Sternberg gedreht, in Chaplins Studio und auch an Schauplätzen in Monterey und Carmel. Chaplin ließ ihn gewähren, er hatte mit seinem eigenen Film "Circus" genügend Probleme, aber als Sternberg ihm dann seinen Film zeigte, weigerte er sich, ihn in die Kinos zu bringen. Sternberg trug das mit Fassung, sie haben noch viele müßige Stunden miteinander verbracht, aber nie das Gespräch auf diesen Film gebracht. "Er schrieb die Kosten über seine formidable Einkommensteuer ab, ich setzte es aufs Konto Erfahrungen." 1933 musste Chaplin, um den Film als wirklich totalen Verlust zu verbuchen, auf Geheiß der Steuerbehörde alle Kopien und das Negativ des Films vernichten - in David Robinsons Chaplin-Buch ist das traurige Dokument dieser Aktion reproduziert. 2005 wurden dann 50 Standbilder in der Sammlung von Edna Purviances Verwandten gefunden, die Linda Wada in einem schönen Buch herausgebracht hat, das die Schönheit dieses verschwundenen Films beschwört.

War Chaplin neidisch auf Josef von Sternbergs Meisterschaft?

Über Chaplins Weigerung, Sternbergs Film in die Kinos zu bringen, können auch David Robinson und John Baxter, die Chaplin- und Sternberg-Biografen, nur spekulieren. Fand Chaplin den Film zu schlecht und seinen Erwartungen nicht gemäß? Hat es ihn so stark deprimiert, Edna in diesem späten Zustand - sie hat sich danach vom Kino zurückgezogen, keine Rolle in Amerika mehr übernommen - zu sehen, in Erinnerung an die frühen gemeinsamen Zeiten? Oder war er neidisch auf die Meisterschaft Sternbergs, die von einem neuen modernen Kino zeugte, dem der Tonfilmzeit? Sternberg zitiert in seinen Erinnerungen einen Satz des Filmtheoretikers John Grierson, der damals den Film gesehen hat: "Die Ironie dieses Films ist, dass es der schönste ist, der je in Hollywood produziert wurde, und der am wenigsten menschliche." Ein Satz, der bei jedem Cineasten brennendes Verlangen schürt - nein, wir werden die Hoffnung nicht aufgeben, dass er womöglich doch überlebt hat.

Eines der Fotos in Linda Wadas Band zeigt die schöne Edna Purviance mit einem Fischernetz über dem Gesicht - das erinnert an die exquisiten Drapierungen, die Josef von Sternberg in seinen Filmen mit Marlene durchspielte - und die vielschichtigen Vorstellungen vom Kino, die er damit entwickelte. "Es gibt keine Spiegel", schreibt Frieda Grafe, "die über Wirkung Auskunft geben. Dazu braucht es den Blick des anderen . . . Sternbergs Filme sind nichts ohne die Investition der Blicke seiner Zuschauer." Vielleicht ist dies das Geheimnis der "Woman of the Sea" - ein erster Versuch, das Bild einer Frau zu gestalten und zugleich den Blick darauf. Die willigste Frau, die sich je meiner Kamera aussetzte, nennt Sternberg Edna Purviance in seinen Erinnerungen. "Unglücklicherweise, sobald die Kamera lief, zerfiel ihr Gesicht, ihre Augen wurden hilflos und ihr Körper zitterte wie ein Espenblatt. Das einzige Heilmittel für diesen Zustand war Alkohol - der ihn hervorgebracht hatte, aber das passte nicht. Ich ließ ein paar Kesselpauken bringen, und die lenkten sie lang genug ab, damit sie ihre Rolle spielen konnte. Es war ihr letzter Film, und mein letzter beinahe auch."

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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