Clausnitz, Heidenau, Freital, Bautzen:Zu Hause brennt's

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Vor einem Jahr begann die Flüchtlingskrise. Drei Bundestagsabgeordnete erzählen, wie ihre Wahlkreise nach rechts drifteten und wie Berlin zum Schauplatz eines Spießrutenlaufs werden kann.

Von Hannes Vollmuth

Wenn die Bundestagsabgeordnete Maria Michalk enttäuscht ist von ihrem Wahlkreis, wenn der Frust zu groß wird, weil ein Flüchtlingswohnheim brennt, geht sie in den Garten. Michalk wohnt in der Nähe von Bautzen, in einem Dorf an der Spree. Sie kniet sich dann hinunter zu den Hyazinthen, sie steckt die Hände in die Erde, sie zuppelt an ihren Tulpen, sie zuppelt an gegen die Wut.

Von Hyazinthen und Tulpen wird zwar auch ein Asylbewerberheim nicht mehr heil, in Brand gesteckt am 21. Februar. Aber irgendwas muss man tun.

Maria Michalk erzählt in ihrem Berliner Abgeordnetenbüro von ihrem Garten. Sie sitzt an einem Tisch, hinter ihr ein Regal, in dem ein Bautzen-Reiseführer steckt. Vor dem Fenster braust die Wilhelmstraße, die britische Botschaft liegt gleich nebenan. Michalk redet und reibt sich die Augen, verschmiert die Wimperntusche, und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als ob sie weinte.

Vor einem Jahr begann die große Ankunft der Flüchtlinge in Deutschland, und mit ihr die Welle an rechter Gewalt. Unbekannte Kleinstädte erlangten traurige Berühmtheit. Und die Politiker im Ort stellten sich die Frage: Was eigentlich tun, wenn ein Flüchtlingswohnheim brennt?

In einer Region gibt es zwei Personen, denen man den Status eines Vaters oder einer Mutter im politischen Sinne zusprechen kann. Die erste Person ist der Landrat. Die zweite der Bundestagsabgeordnete, der Direktkandidat. Der Abgeordnete vertritt die Region in Berlin und fühlt sich dafür verantwortlich, dass es im Wahlkreis gut läuft. Und was, wenn nicht?

Was hat das mit den Abgeordneten gemacht, dass Flüchtlingswohnheime brannten? Ist da Scham und Wut? Verdrängungen? Rechtfertigung?

Drei Abgeordnete haben ein Jahr danach für diese Geschichte Auskunft gegeben: Veronika Bellmann, Klaus Brähmig und Maria Michalk. Drei Direktkandidaten der CDU, einer Partei, welche die Flüchtlingsfrage fast zerrissen hat. Drei Vertreter von Orten, die zu Synonymen rechter Gewalt geworden sind: Clausnitz, Heidenau, Freital, Bautzen - "Dunkeldeutschland", wie Bundespräsident Joachim Gauck sagt.

Klaus Brähmig läuft durch die Katakomben des Reichstagsviertels zum Paul-Löbe-Haus, er ist spät dran, er muss fast rennen. Aber Brähmig ist ein Mensch, der auch im Laufen darüber sprechen kann, was in seinem Wahlkreis so passiert. "Da sind zwei Städte unschuldigerweise an den Pranger gestellt worden", sagt Brähmig außer Atem, "unschuldig, weil die beiden Städte den Kopf für einige wenige hinhalten müssen." Er redet über Imageprobleme und mangelnde Kommunikation, ein Gespräch im Vorübergehen, zwischen Tür und Angel. Dann ist er bei seinem Termin angekommen. Brähmig hat eine Besuchergruppe aus dem Wahlkreis. Brähmig hat Besuch aus Heidenau.

Ein Heidenauer Rentner schlurft an Brähmig vorbei und in den Ausschusssaal hinein. "Mensch Klaus, hast dich ja fein gemacht, ganz groß."

Drinnen, auf den Sitzen, schlohweißes Haar, wässrige Augen, müde Gesten, Damenschals, karierte Herrenhemden, die Besucher sind schon älter, wie so oft, wenn es um Politik gehen soll. Wahlkreis Nr. 158 hat erst mal keine Fragen an den Abgeordneten. Lieber soll der Klaus erzählen. Nach 20 Minuten will eine Frau dann doch wissen, wie Brähmig den Tourismus wieder ankurbeln will. Die Frau hat mehrere Ferienwohnungen, die Ferienwohnungen stehen seit den Ausschreitungen leer. Brähmig: "Das müssen wir uns mal im Detail anschauen, ob das überhaupt so stimmt."

Mehr über Heidenau und Freital will die Besuchergruppe nicht wissen, weshalb man später, im Abgeordnetenbüro, selbst nachhaken muss. Wenn man Klaus Brähmig aber fragt, ob ihn die Vorfälle noch beschäftigen, schnauft er erst mal laut und lang, dann Schweigen, ein eher seltener Zustand, schließlich: "Eigentlich nicht, muss ich Ihnen ganz offen sagen."

Brähmig ist ein leutseliger CDU-Politiker von 58 Jahren im dunklen Anzug und mit Klarsichtmappe unterm Arm. Er war mal Handwerksmeister, sitzt aber schon seit einem Vierteljahrhundert im Bundestag. In seinem Wahlkreis, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, ist Brähmig beliebt. Und wenn es stimmt, was der Referent so erzählt, dann gilt das auch für seinen selbstgemachten Eierlikör.

Als im vorigen Sommer der Mob - Brähmig lehnt das Wort natürlich ab - durch Freital und Heidenau zog, Steine auf Polizisten regneten, Feuerwerkskörper explodierten, die Gewalt und der Hass sich entluden wie ein Spätsommergewitter, war er enttäuscht, schon. Er meint jetzt nicht die Taten. Brähmig war enttäuscht, weil niemand mit seiner Flüchtlingsskepsis in seine Bürgersprechstunde gekommen ist.

Klaus Brähmig findet, dass zu viel über Freital und Heidenau geredet wird

Brähmig findet, dass zu viel über Freital und Heidenau geredet wird. Er will jetzt, ein Jahr nach den ersten Ausschreitungen, Ruhe reinbringen, mehr kommunizieren, mehr differenzieren. Er fragt sich, ob auch er Fehler begangen, vielleicht zu wenig geredet hat. Zu den rechten Ausschreitungen in seinem Wahlkreis sagt er: "Das ist natürlich so überflüssig wie ein Kropf." Er sagt: "Da wird aus der Mücke der Elefant gemacht."

Wollte man auf Brähmig die Eltern-Metapher anwenden, würde man von einem Vater sprechen, der zwar weiß, dass jemand etwas angestellt hat, ihm deshalb aber keine Vorwürfe machen will. Brähmig ist ein eher verständnisvoller Vater.

In letzter Zeit denkt Brähmig sogar häufig an Sebnitz, wenn er Freital und Heidenau erklären will. Im November 2000 berichtete die Bild-Zeitung, ein Sechsjähriger sei 1997 im Freibad von Sebnitz ertränkt worden, die Täter: rassistische Jugendliche aus der Stadt. Zuerst schwappte das öffentliche Entsetzen über Sebnitz, dann stellte sich heraus: ein Medienskandal, nichts davon ist wahr. Brähmig hat das Gefühl, auch bei Freital und Heidenau könnte die Wahrheit eine andere sein.

Es ist, als ob die Wirklichkeit für Klaus Brähmig in zwei Teile zerbrochen ist, sie liegen nebeneinander, aber man bekommt sie nicht mehr zusammen. Man muss sich jetzt entscheiden, in welcher Wirklichkeit man leben will.

Maria Michalk sitzt in ihrem Büro und erzählt mit feuchten Augen, wie mit dem Flüchtlingswohnheim in Bautzen auch ein Teil ihrer eigenen Biografie abgebrannt ist. Sie hat ihren 65. Geburtstag dort gefeiert, im Husarenhof, 14 Monate bevor er in Flammen aufgegangen ist. Sie fragt sich immer noch: "Was muss man eigentlich für ein Mensch sein, um ein Flüchtlingswohnheim anzuzünden?"

Am 21. Februar saß Michalk gerade beim Sonntagsfrühstück mit ihrem Mann. Michalk wohnt zehn Kilometer von Bautzen entfernt. Sie ist gerade vom Gottesdienst zurückgekommen, abends muss sie nach Berlin, da kommt die Meldung im Radio: Brandanschlag in Bautzen, Husarenhof. "Ich war wie unter Schock", sagt Michalk.

Sie klickt sofort die Internetseiten durch: Deutschlandfunk, Radio-Lausitz, Meldungen von dpa. Sie ruft Freunde in Bautzen an, saugt alles auf. Eigentlich hat sie Termine am Nachmittag, aber sie muss das sehen, sagt sie zu ihrem Mann. Am frühen Nachmittag fährt das Ehepaar Michalk am Husarenhof vorbei, sieht die Absperrungen, die Ermittler, den abgebrannten Dachstuhl der zukünftigen Flüchtlingsunterkunft. Michalk fühlt Scham und Ohnmacht. Nach Berlin fährt sie erst am Montag, ganz in der Früh.

Maria Michalk ist eine ruhige, mütterliche Frau, drei Kinder, sechs Enkelkinder, der sächsische Dialekt bahnt sich auf sympathische Weise seinen Weg durch jeden Satz. Bei dem Gespräch in ihrem Büro erzählt sie, dass sie den Brandanschlag in Bautzen als Zäsur empfunden hat: Brandstiftung, Brandbeschleuniger, klatschende Jugendliche. Sie habe sich fast entschuldigen wollen, sagt Michalk über die Tat.

Berlin nach dem Bautzener Brandanschlag war für Maria Michalk die Hölle: funktionieren, kämpfen, lächeln. Zu Hause ein verkokelter Dachstuhl, ein Schandfleck mitten in der Stadt. In der Fraktion und auf den Gängen des Bundestags viele Fragen: Maria, was ist bei euch denn los? "Aber ich war ja froh, dass man mich angesprochen hat." Am Mittwochabend fährt sie zurück nach Bautzen, Krisensitzung.

Während Klaus Brähmig an den Medienskandal von Sebnitz denkt, denkt Maria Michalk an die Sorben und ihre großen Wanderbewegungen. Michalk ist selbst Sorbin, Mitglied einer westslawischen Minderheit in der Lausitz, von der sich im 19. Jahrhundert ein Teil nach Texas aufgemacht hat. "Klassische Wirtschaftsflüchtlinge in unserem heutigen Verständnis", sagt Michalk. Aber die Menschen sind leider so vergesslich, so sieht sie es.

Wollte man die Eltern-Metapher auf Maria Michalk anwenden, müsste man von einer Mutter sprechen, die erkennt, dass ein paar ihrer Kinder auf Abwegen sind. Enttäuschung, Scham, Frustration.

Das Bundeskriminalamt hat deutschlandweit schon 631 Straftaten gegen Asylunterkünfte gezählt, 53 davon Brandstiftung. Im Moment kommen nur wenige Flüchtlinge ins Land. Die Gewalt geht aber weiter, auch wenn das niemand mehr zur Kenntnis nehmen will. Einen unbescholtenen Wahlkreis zu finden wird immer schwieriger, weshalb es auch unfair erscheinen könnte, ausgerechnet drei Abgeordnete aus Sachsen zu befragen.

Andererseits gibt es ein Jahr danach niemanden, der besser beschreiben könnte, wie man damit umgeht, Abgeordneter eines Wahlkreises mit rechter Gewalt zu sein. In Berlin die immer gleichen Fragen: Was ist da los? Daheim im Wahlkreis auch Fragen. Die Fragen sind nicht dieselben.

Veronika Bellmann hat vorgeschlagen, sie ins ZDF-"Morgenmagazin" zu begleiten. Im ZDF-"Morgenmagazin" ist sie zum vierten Mal. Nicht als Gesprächspartner. Bellmann besucht das "Morgenmagazin" zum vierten Mal als Gast.

Im ZDF-Hauptstadtstudio, Unter den Linden, umschließt die Besuchergruppe gleich die Abgeordnete, Frauen aus Mittweida, auch hier viel schlohweißes Haar, Gesundheitsschuhe, Enkel-Anekdoten und Urlaubs-Nachbesprechungen - "Luxor war schon toll". Veronika Bellmann wird geherzt, fotografiert und mit Geschenken bedacht. Dann geht das gleißende Studiolicht an, Wetterbericht, Frage an Rosi aus Mittweida, was tun an einem Regenwochenende? Rosi: "Kuscheln!" In der anderen Ecke des Studios steht Bellmann mit zwei Frauen aus Mittweida an einem Tisch, vor ihr ein Wurstbrötchen. Es wirkt, als habe Mittweida aus seiner Abgeordneten gerade eine Hausfrau gemacht.

Am 19. Februar, ein Freitag, saß Veronika Bellmann im Plenum des Bundestags. Ihr Handy vibriert, eine SMS der Mitarbeiterin, ein Video aus Clausnitz gehe um die Welt. Bellmann verlässt den Plenarsaal und schaut sich das Video auf dem Handy an: Ein wütender Mob empfängt einen Bus mit Flüchtlingen, versperrt die Durchfahrt, schreit "Verpisst euch" und skandiert "Wir sind das Volk". Bellmann erinnert sich an dunkle Bilder und aufgeheizte Stimmung. Sie erinnert sich, wie eine muslimische Frau an die Scheibe spuckt.

"Ich wollte mich nicht dem Ereignistourismus anschließen", sagt Veronika Bellmann

Ihre erste Reaktion auf das Video: "Der eine ist 'nen Dreier wert, der andere drei Pfennig", ein sächsisches Sprichwort, da ist der eine nicht besser als der andere. Sie findet, dass beide Seiten zur Eskalation beigetragen haben. Sie fährt am Wochenende auch nicht nach Clausnitz, sie hat Termine, sonntags pflegt sie die Mutter. "Ich wollte mich nicht dem Ereignistourismus anschließen", sagt sie. Den Gemeinderäten rät Veronika Bellmann: Haltet euch von der Presse fern.

Auch Bellmann empfindet Berlin nach Clausnitz als Horror. In einer aktuellen Stunde zu den Ereignissen äußert sich Monika Lazar von den Grünen: "Auch die sächsische CDU zeigt sich leider wieder besonders realitätsfern, diesmal zum Beispiel die Kollegin Bellmann, die heute auch anwesend ist." Suchte Bellmann im Internet nach "Clausnitz", kamen Hunderte Treffer. "Das meiste sehr einseitig", erinnert sie sich. Dann erzählt Bellmann von der Antifa, die gedroht hätte, das Dorf in Trümmer zu legen. "Die Leute hatten wirklich Angst", sagt die Abgeordnete und fragt, warum darüber niemand schreibt.

In ihren Wahlkreisen wurde aus Hass gegen Flüchtlinge schließlich Gewalt. Was hat das vergangene Jahr mit den Abgeordneten gemacht? Maria Michalk, Klaus Brähmig und Veronika Bellmann (v. l. n. r.) von der CDU. (Foto: PR)

Bellmann erzählt das alles nach der Aufzeichnung des ZDF-"Morgenmagazins", während die Mittweidaer Frauen sich die Redaktionsräume anschauen dürfen. Wie schon Klaus Brähmig und Maria Michalk wirkt auch Veronika Bellmann umgänglich, nahbar, eine 55-jährige Frau mit sächsischem Dialekt, Humor und einem Schal mit Giraffen darauf. Sie zählt jetzt die Flüchtlingswohnheime auf, die sie noch besuchen will, auf welchen Mittelalterfesten sie erscheint, und man hat das Gefühl, Wahlkreis Nr. 161, Mittelsachsen, könnte zufrieden sein mit seiner Abgeordneten. Bellmann war mal Streetworkerin und betreute den mutmaßlichen Drahtzieher eines Brandanschlags. Sie begleitete den Jungen in seinen Skinhead-Club. "Er hat vor allem Familienstrukturen gesucht."

Nach einer Stunde sagt Bellmann dann: "Das in Clausnitz war nicht in Ordnung." Aber vielleicht seien die Taten ja nur eine Art und Weise zu sagen, wir sind nicht einverstanden mit der Flüchtlingspolitik. Bellmann findet auch, man müsse den Leuten mehr die Möglichkeit geben, ihre deutsche Identität zu leben. Ob rechte Ausschreitungen wie in Clausnitz sich wiederholen könnten? Bellmann denkt: Nein. "Nicht nur, weil es unrecht wäre", sagt sie, "aber den Zirkus will keiner mehr."

Als Mittweida zurück ins Atrium quillt, verschwindet Bellmann erneut hinter Damenschals. Wie hatte sie es noch gleich ausgedrückt? Sie lebe für den Kontakt mit den Leuten. Eine Mutter, die sich bedingungslos mit ihren Kindern identifiziert.

Drei Abgeordnete, drei Problemwahlkreise und die schwierige Situation, sich hinter eine Region zu stellen, die im vergangenen Jahr zum Synonym rechter Gewalt geworden ist. Gerade ist Ruhe eingekehrt, vorerst. Aber Maria Michalk googelt trotzdem nach "Bautzen", wenn sie nachts nach Hause kommt. Veronika Bellmann redet von der deutschen Identität. Und Klaus Brähmig beendet das Gespräch mit dem Satz: "Wenn irgendjemand meinen Wahlkreis als rechts bezeichnet und damit alle Bürger pauschalisierend in Sippenhaftung nimmt, dann steh ich voll und ganz hinter meiner Region."

Fünf Tage nach dem Gespräch mit Klaus Brähmig stürmt eine Einheit GSG 9 ein Haus in Freital und nimmt fünf mutmaßliche Rechtsterroristen fest. Brähmig wollte sich zu den Vorgängen nur noch schriftlich äußern. In einer Mail schreibt er: "Ich bin froh und stolz, meine Heimat im Deutschen Bundestag vertreten zu dürfen. Traurig stimmt mich, dass es in der Region Menschen gibt, die anderen Menschen mit Hass und Ausgrenzung begegnen und auch vor Gewalt nicht zurückschrecken."

Was ihn aber störe, sei die Tatsache, dass alle Sachsen als Rechte dargestellt werden würden.

© SZ vom 23.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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