Charlie Sheen auf Tournee:In idealer Borderline-Form

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Irre: Der gefeuerte Fernsehstar Charlie Sheen kultiviert seinen Halbwahnsinn bei einer Tournee durch amerikanische Theater - und niemand merkt, dass seine Karriere von nichts anderem lebt als vom Kaputtgehen seiner Karriere.

Jörg Häntzschel, Chicago

"Detroit sucks! Detroit sucks!" Kaum hat Charlie Sheen nach seinem grandiosen Debakel vom Abend zuvor die Bühne des Chicago Theaters betreten, tobt schon der Saal. Die Mädchen schreien, was Wodka und Red Bull hergeben. Ein fetter Mann reißt sich sein Hemd vom Leib und bietet sich für den restlichen Abend als nützlicher Trottel an. Und Sheen muss nicht mehr tun, als möglichst laut fluchen, um den Saal zum Kochen zu bringen.

Eine Zuschauerin von Charlie Sheens Show zeigt, was sie von der  Darbietung  hält. (Foto: AFP)

War es das, was Sheen vorhatte, als ihm die Schnapsidee kam, seine jüngste Tournee über die Talkshowsofas nun auch live in 20 amerikanische Hallen zu tragen? War es das, was er meinte, als er sich den Titel "Violent Torpedo of Truth. Defeat Is Not an Option" ("Gewalttätiger Torpedo der Wahrheit - Niederlage ist keine Option") ausdachte? Nein. Es sollten ganz große Abende werden. Aber in Detroit musste das Publikum erst einen öden Comedian ertragen.

Und als Sheen endlich kam, fand er es witzig, Detroits tollen Crackmarkt zu rühmen, bevor er das Publikum mit einer Hitparade seiner YouTube-Videos unterhielt, und mit einem Medley heroischer Filmmomente von Taxi Driver bis Rocky. Der schmierige Auftritt seiner "Göttinnen" konnte den Abend nicht retten. "Loser", "Du bist scheiße", riefen die ersten aus dem Publikum. "Ich habe Euer Geld schon!", feixte darauf Sheen. Wenig später buhte die Menge ihn von der Bühne.

Was Sheen mit seiner Tour vorhatte, wie er ohne jede Live-Erfahrung Abend für Abend tausende von Zuschauern unterhalten wollte, das war von Anfang an niemandem klar gewesen. Die Veranstalter verließen sich offensichtlich darauf, er werde schon durchgeknallt genug sein. Doch nach dem Fiasko in Detroit rechnete kaum jemand damit, dass er einen zweiten Abend überstehen würde.

Der Schwarzmarkt für Sheen-Tickets im Internet kollabierte innerhalb von Minuten. Die Veranstalter engagierten zusätzliches Sicherheitspersonal, um Sheen vor seinen empörten Fans zu schützen. Lüstern erwartete man in Chicago den endgültigen Kollaps der Sheen-Maschine, den erfolgreichsten Versuch der jüngeren Zeit, Irrsinn zu Geld zu machen.

Doch wer so dachte, hatte sich gründlich getäuscht. Solange Sheen in der Lage ist, immer neue läppische Kontroversen, bunte Pseudoskandale und imaginäre Feinde zu produzieren, werden ihn die Fans, die sich mit dem angeblich Belagerten, der nicht mehr mitmacht und die Schnauze voll hat, dankbar identifizieren. Es ist wie bei Sarah Palin: Jeder Feind sichert ihm drei neue Fans. Die böse Abfuhr, die Sheen bei den undankbaren Trollen in Detroit erlebt hatte, reichte locker aus, um den kompletten Abend in Chicago zu bestreiten.

Prominente Ausreden
:Es ist nicht so, wie es aussieht

Für Charlie Sheens jüngsten Ausrutscher hat sein Manager eine einfache Erklärung. Auch andere Stars hatten für ihre Fehltritte schon phantasievolle Ausreden.

in Bildern.

Anfangs sah es nicht gut aus für den zweiten Versuch mit dem "gewalttätigen Torpedo". Kein Aufheizer, keine Videos. Statt des obskuren Rappers vom Abend zuvor ließ ein schüchterner Gitarrist nach Late-Night-Manier nur gelegentlich einen Akkord in Sheens verbale Endlosschleifen fallen. Sheen gegenüber saß ein unbekannter Mittdreißiger, der den ganzen Abend lang seine Schwitzhände an der Jeans abwischte und ihm dazwischen die wahrscheinlich unwitzigsten Interviewfragen stellte, die Sheen jemals gehört hatte.

"Wonach suchen Sie bei einer Frau?" las er allen Ernstes von seinen Zettelchen vor. Oder: "Wie war es eigentlich, als Sie Platoon drehten?" Doch sein eigentlicher Job bestand darin, Sheen zügig durch sein das Repertoire an Themen zu lenken, das seine Fans kennen und lieben gelernt haben. Weil auch Sheen nicht jeden Abend in idealer Borderline-Form ist, und nicht pünktlich, wenn sich der Vorhang hebt, mit neuen Verschwörungsphantasien dienen kann, muss er dazu gebracht werden, die bekannten Sprüche wieder und wieder zu klopfen.

"Tigerblut" muss auf jeden Fall vorkommen, sonst wäre Sheen nicht Sheen. "Winning", noch wichtiger! "Fucking brilliant", die "Vatikan-Mörder" und natürlich "Fucking Rockstar!" Die Quatsch-Parolen sind auf den T-Shirts der Zuschauer zu lesen. Aber man will es, klar, noch einmal von ihm selber hören.

Leicht hat es der Interviewer nicht. Einerseits muss er Sheen, der ständig Abzudriften droht, an der kurzen Leine führen. Andererseits ist ja immer die Möglichkeit eines neuen Ausbruchs drin, der vielleicht neuen Stoff bringen könnte. Und schließlich muss Sheen vor dem Publikum abgeschirmt werden, das ihn mit seinen Zwischenrufen ganz aus dem Konzept bringt. Auch diesmal wagen sich seine "Göttinnen" nur für Sekunden auf die Bühne, weil sie genau wissen, dass sie der Mob dort gleich zerrupfen würde.

Es ist eine erbärmliche Vorführung: So wie ein rarer Vogel behutsam zum Singen angeregt wird, wird Sheen, der fluchende, zeternde, sexistische und halbverrückte Dummkopf mit Fingerspitzengefühl zu seinen Ausbrüchen geleitet. So derb, dass er mit ihnen am Ende das Publikum gegen sich aufbringt, dürfen sie aber auch nicht sein.

Ein paar Leute verlassen den Saal, einige sehen sich die Nicht-Show ratlos an, doch zwei Drittel des Publikums stört sich nicht im Geringsten an der ereignis- und inhaltslosen Aufführung. Dass Sheen mittlerweile zum routinierten Darsteller seiner selbst geworden ist, dessen Karriere bis auf Weiteres von nichts lebt als von dem theatralisch aufgemotzten Kaputtgehen seiner Karriere, fällt ihnen gar nicht auf.

Und selbst als Sheen bereits nach einer halben Stunde eine Pause einlegt, gibt es kein Murren. "An alle die gezweifelt haben: Sheen hat sein Tigerblut nach Chicago gebracht" tweetet eine junge Frau enthusiastisch. "Er ist einfach irre witzig", erklärt sie.

Sheen hat sein Hemd derweil mit dem grasgrünen eines Fans getauscht. Weil nichts mehr zu sagen ist, kramt er Erdnüsse und "Schmerz-Spray" aus seiner Tasche hervor. Er liest ein Gedicht vor. Er steckt sich die zwölfte Zigarette an. Ganz großer Abend! Fucking brilliant!

© SZ vom 05.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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