Aktuell:"Ich dachte, jemand rüttelt an meinem Stuhl"

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Seit dem Erdbeben in Mexiko im September hat Norma, 11, keine Schule mehr. Nun macht sie ihre Aufgaben auf dem Markt. Viel mehr als den Unterricht aber vermisst Norma ihre Freunde.

Protokoll von Franziska Pröll

"Seit fast drei Monaten gehe ich nicht mehr in die Schule. Denn seit dem Erdbeben am 19. September ist das Gebäude gesperrt. Niemand darf da rein. Damals, als es losging, dachte ich zuerst an einen Scherz. Hinter mir sitzt ein Junge, der viel herumalbert. Ich dachte, jemand würde an meinem Stuhl rütteln. Dann kam der Alarm. Unsere Schule hat ein eigenes Warnsystem. Ich wusste sofort: Erdbeben. Wir rannten die Treppen vom dritten Stock aus herunter. Wir hatten Angst. Wir wollten so schnell wie möglich raus auf den Schulhof. Das Gebäude könnte einstürzen. Wer meine Schule besucht, weiß das. Wir haben das richtige Verhalten bei Erdbeben mit unseren Lehrern geprobt. Als ich unten ankam, waren schon viele Schüler aus anderen Klassen auf dem Schulhof. Ich stand bei meinen Freundinnen. Gerne hätte ich meine Mama angerufen. Doch in der Schule habe ich nie ein Handy dabei. Es ist nicht erlaubt.

Noch nie zuvor war ich so erleichtert, meine Mama zu sehen wie an diesem Tag, als sie mich abholte. Gemeinsam gingen wir nach Hause. Ich war froh, aber auch unsicher: Wie wird es in unserer Wohnung aussehen? Wird alles kaputt sein? Zum Glück ist bis auf ein paar heruntergefallene Tassen alles heil geblieben.

Am Tag nach dem Beben hatten wir schulfrei, am Tag danach auch - und so ging es weiter. Drei Wochen nach dem Erdbeben konnten Mama und ich meinen Rucksack in der Schule abholen. Wir durften aber nur ganz kurz hinein. Die Schule ist einsturzgefährdet, deshalb darf sich darin niemand aufhalten.

Statt in die Schule gehe ich seit dem Erdbeben jeden Morgen auf den Markt. Hausaufgaben machen, die wir von den Lehrern bekommen. Meine Mama hat auf dem Markt einen eigenen Stand. Von 7 bis 17 Uhr verkauft sie Obst, Gemüse, Säfte und Kaffee. Jeden Tag, auch am Wochenende.

Mama und ich stehen deshalb immer früh auf. Wir tragen die Waren zu Mamas Marktstand. Sie ist froh, dass ich ihr helfe. Wenn alles fertig vorbereitet ist, baue ich mir hinter dem Stand aus Plastikkisten einen Schreibtisch auf: eine kleine Kiste als Stuhl, eine größere als Tisch.

Ich vermisse den normalen Unterricht. Manchmal habe ich Angst, dass die Erde wieder beben könnte - und meine Schule dann vielleicht sogar einstürzt. Das wäre schrecklich. Meine Freunde fehlen mir. Seitdem der Unterricht ausfällt, sehe ich sie nicht mehr so oft. Ab und zu kommt mal einer von ihnen auf dem Markt vorbei. Dann reden wir und spielen - wie wir es normalerweise nach der Schule oder am Wochenende machen.

Seit November haben wir zum Glück wieder Schule. Zumindest einmal pro Woche ein paar Stunden lang. Eine benachbarte Schule stellt uns einen Raum zur Verfügung. Meine Schule soll dagegen noch bis Januar geschlossen bleiben. Solange wird dort gearbeitet und repariert. Hoffentlich dauern die Bauarbeiten nicht noch länger."

© SZ vom 09.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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