Zukunft totalitär:Das Glück der Nummern

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Jewgenij Samjatin schrieb 1920 seinen Roman "Wir" - eine grandiose Negativutopie, aus Enttäuschung über die russische Revolution. Christoph Kalkowski hat sie in einem Hörspiel aktualisiert. Mit großer Orchestermusik.

Von Jens Bisky

Nur Historiker berichten noch von Menschen, die ohne Verordnungen lebten, keine Pflichtspaziergänge kannten, keine exakt festgelegten Essenszeiten. Diese Menschen damals sollen sogar nachts durch beleuchtete Straßen gegangen oder gefahren sein. Im Museum hängt das Bild einer Straße des 20. Jahrhunderts: Gewimmel, Gewühl, buntes Durcheinander. Lächerlich unlogisch erscheint all das, seit die letzte Revolution gesiegt und der Einzige Staat gelernt hat, Hunger und Liebe zu beherrschen. Alle Gebäude erstrahlen nun kristallin, sie sind aus unzerbrechlichem, ewigem Glas gegossen. Millionen stehen an jedem Morgen zur selben Stunde auf wie ein Mann, beginnen ihre Arbeit, beenden sie alle zugleich. Ein jeder, eine jede führt in der gleichen, von der Gesetzestafel festgelegten Stunde den Löffel zum Mund. Lediglich zwei Stunden am Tag sind nicht durchgeplant, noch nicht. Als größtes Werk der alten Literatur gilt der Eisenbahnfahrplan; Tanz gefällt, ist schön, weil er eine unfreie, eine gebundene Bewegung ist, weil sein tieferer Sinn die vollkommene ästhetische Unterwerfung, die ideale Unfreiheit ist."

So sieht sie aus, die glückliche neue Welt tausend Jahre nach der Unterwerfung der Erde durch den Einzigen Staat. Nun schickt man sich an, unbekannte Wesen auf anderen Planeten unter das "segensreiche Joch der Vernunft" zu zwingen. Der Mathematiker D-503 - es gibt keine Namen, nur Nummern - hat dafür das Raketenflugzeug Integral konstruiert. 120 Tage vor dessen Vollendung beginnt Jewgenij Samjatins Roman "Wir" - eine Folge von Eintragungen der Nummer D-503.

Samjatin hat diese Welt des durchgeplanten, kalkulierten, kollektiven Glücks 1920 entworfen. Der Schiffbauingenieur hatte sich bereits während seines Studiums den Bolschewiki angeschlossen, 1905 die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin organisiert, er war ein Freund Gorkis und selbstverständlich auch 1917 ein aktiver Revolutionär.

"Wir" war seine Absage an die siegreichen Bolschewiki. Das Manuskript wurde nach New York geschmuggelt, eine englische Übersetzung erschien 1924, vier Jahre später dann in einer Emigrantenzeitschrift eine gekürzte russische Fassung. Der Verfasser von "Wir" firmierte in der Sowjetunion fortan als Konterrevolutionär und Trotzkist, aber Stalin ließ ihn, nachdem er in einem Brief darum gebeten hatte, ausreisen. 1937 starb Jewgenij Iwanowitsch Samjatin in Paris. Seine Schilderung einer zwangsbeglückten Massengesellschaft war wohl die erste der für das 20. Jahrhundert so typischen Negativutopien, ein Vorläufer von Aldous Huxleys "Brave New World", George Orwells "1984" oder Ayn Rands "Anthem".

Wer den Roman liest, wird sich zunächst auf die Details der Zukunftswelt konzentrieren, auf gläserne Häuser, "Mutternorm" und "Geschlechtstage", den "Wohltäter", und dann das Ineinander von Liebesgeschichte und Rebellion verfolgen. Das Hörspiel, von Christoph Kalkowski für den SWR inszeniert, hat eine andere, aber nicht weniger interessante Perspektive. Beschreibungen, die Versuche des Helden in mathematisch hergeleiteter Ethik sind stark gekürzt worden. Im Zentrum steht hier der zwielichtige Charakter von D-503, der eine unerlaubte Liebelei mit der Revolutionärin I-330 beginnt und bald den Ausbruch einer Krankheit seines Ich konstatieren muss: er hat eine Seele bekommen, er hat Fantasien.

Jewgenij Samjatin: Wir. Aus dem Russischen von Gisela Drohla. Hörspiel von Christoph Kalkowski. Mit Andreas Pietschmann, Jana Schulz, Hanns Zischler u.a. Komposition: Raphael D. Thöne. Der Audio Verlag, Berlin 2015. 2 CDs, 95 Minuten, 16,99 Euro. (Foto: Der Audio Verlag)

Was es heißt, eine Seele zu bekommen, wird hier akustisches Ereignis

Die Musik von Raphael D. Thöne spielt eine entscheidende Rolle in diesem Drama um Anpassung und Auflehnung. Sie verleiht dem Geschehen eine emotionale Tiefe, die Samjatins satirische, leichte Prosa nicht besitzt, die aber in der Geschichte angelegt ist. Ausgerechnet diesem Roman ein Hörspiel mit großer, keinen Effekt scheuender Orchestermusik abzugewinnen, scheint ein abenteuerlicher Einfall. Aber es glückt, die Negativutopie wird zur wuchtigen Charakterstudie, die Identifikation mit dem Erzähler D-503 verhindert.

Andreas Pietschmann spricht ihn mit einem Reichtum an Nuancen und Tonfällen, den man der Figur, dem Mathematiker und Konstrukteur der literarischen Vorlage, kaum zugetraut hätte. Was es heißt, eine Seele zu bekommen, hört man hier, es wird akustisches Erlebnis. Dank Jana Schulz wird die Rebellin I-330 zur gleichwertigen Gegenspielerin. Sie ist ein Störfall in der vollkommenen Welt schon deshalb, weil man sie nicht sofort einordnen, ausrechnen kann. Hanns Zischler spricht zwei Rollen und unterscheidet präzise zwischen dem Propagandagerede des Fonolektors und dem Ordnung verheißenden "Wohltäter", dem Diktator.

Negativutopien enden nach den Gesetzen des Genres meist mit der Wiedereingliederung der Außenseiter oder ihrem Tod. Am Ende steht der Triumph der Macht. Samjatins D-503 entscheidet sich für das Joch der Vernunft, das zugewiesene Glück im Kollektiv. Die letzte Eintragung aber ist nicht so eindeutig, die Zukunft des Einzigen Staates ungewiss: ". . .in den westlichen Vierteln gibt es noch immer Chaos, Gebrüll, Leichen, Tiere und leider auch eine bedeutende Zahl von Nummern, die die Vernunft verraten haben. Aber es ist uns gelungen, auf dem 40. Prospekt eine provisorische Mauer aus Starkstrom zu errichten."

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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