Zukunft:Das Zeitalter des sichtbaren Denkens

Zukunft: Für den Musiker Peter Gabriel dauert es nicht mehr lange, bis wie Gedanken so leicht öffnen können wie Konservendosen.

Für den Musiker Peter Gabriel dauert es nicht mehr lange, bis wie Gedanken so leicht öffnen können wie Konservendosen.

(Foto: Shaun Curry/AFP)

Gehirnscanner werden immer besser und billiger. Was könnte das für uns bedeuten? Eine Vision des Musikers Peter Gabriel, der glaubt, dass wir bald unsere Gedanken öffnen wie Konservendosen.

Von Peter Gabriel

Mich hat 2015 die Nachricht fasziniert, dass Gehirnscanner für den Hausgebrauch entwickelt werden. Wenn die Kosten für diese so weit fallen, ihre Auflösung und die Leistungsfähigkeit von Computern allgemein aber weiter steigt, dann scheint es mir unausweichlich, dass unser Denken bald sichtbar sein könnte. Man wird es herunterladen und so auf neue Art öffnen können.

Vom Potenzial der Gehirnscanner erfuhr ich erstmals durch die Arbeiten von Mary Lou Jepsen. Die Muster, die man mit Magnetresonanztomografie-Apparaten erzeugen kann, wenn Probanden Videos ansehen, ermöglichen es, das Denken zu Bildern zu machen. Pionierarbeit wurde dafür 2011 im Labor von Jack Gallant an der Universität Berkeley bei Versuchen mit MRI-Scannern geleistet.

Sperrige und teure Spezialgeräte, die mit Magnetfeldern operieren, werden von viel günstigeren Geräten abgelöst werden, die mit technischer Optik funktionieren. Die Leistungsfähigkeit von Künstliche-Intelligenz-Algorithmen wird das Übrige erledigen. Noch klingt das alles wie Science-Fiction. Aber der Nutzen ist so enorm, dass die Realisierung unvermeidlich ist. Mary Lou Jepsen glaubt, dass es gerade einmal ein Jahrzehnt dauern werde.

Unsere Gedanken könnten also aus unseren Köpfen in den Computer springen, von dort ins Internet und damit in die Welt. Vor uns liegt das Zeitalter des sichtbaren (und hörbaren) Denkens. Ohne Zweifel wird es das menschliche Leben stärker beeinflussen als jeder evolutionäre Fortschritt, als jede andere Technologie zuvor.

Die Essenz dessen, was wir sind, steckt in unseren Gedanken und Erinnerungen, die nun wie Konservendosen geöffnet und über die schlafende Welt ausgegossen werden. Erschwingliche Scanner werden es jedem möglich machen, seine Gedanken der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Und zu den Gedanken anderer Zugang zu haben. Was das bedeutet, wurde bislang noch gar nicht erfasst.

Was wohl in den Köpfen der Pioniere der Gehirnscanner-Forschung vorgeht? Es muss ein wilder Oppenheimer-Cocktail aus freudiger Erregung und Furcht über die Möglichkeiten und Gefahren ihrer Entdeckungen sein. Unsere Aufgabe ist deshalb, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht alleingelassen und unverstanden fühlen.

Es heißt, dass ein großer Konzern seine Forschung schon wieder eingestellt habe, weil ihm das negative Potenzial der Technologie zu groß erscheint und er Diskussion darüber scheut, inwieweit sie die Privatsphäre verletzt. Zweifellos wird der Gehirnscanner unseren Alltag und unser Zusammenleben verändern, im Guten wie im Schlechten.

Wem das nicht behagt, der wird sich künftig schwertun. Vielleicht müssen wir uns bald Kurse ausdenken, in denen uns beigebracht wird, wie wir mit unserer neuen Offenheit zurechtkommen.

Was wird in einer Welt, in der das Denken sichtbar ist, außerdem passieren?

Ein wesentlicher Unterschied zu heute wird sein, dass das Denken dem Handeln immer näher kommen wird. Kürzere Feedback-Schleifen werden den Wandel beschleunigen, die ganze Langsamkeit, in der wir es uns so bequem gemacht haben, wird der Vergangenheit angehören.

Die Grenzen zwischen Vorstellung und Realität werden sich vollständig auflösen

Für meinen Großvater bedeutete ein Trip von London nach New York noch eine dreiwöchige Reise voller Gefahren, für mich gab es schon einen luxuriösen Drei-Stunden-Flug mit der Concorde. Die Tatsache, dass man das Denken künftig direkt in die materielle Welt einspeisen wird, könnte auf ähnliche Weise alle Zeitverzögerungen eliminieren. Wenn ich nach draußen blicke und dort Häuser und Autos sehe, dann sehe ich auf Gedanken, die zu Gegenständen wurden. Materialisierte Ideen. Mit 3-D-Druckern und Robotern kann sich dieser Verwandlungsprozess inzwischen fast in Echtzeit ereignen.

Wir erlebten im vergangenen Jahr, wie Roboter Brücken und Häuser bauten, aber bislang arbeiten sie noch nach Anleitung. Bald wird es möglich sein, den Architekten direkt in die Roboter einzustöpseln. Nach ein paar Feinabstimmungen werden wir dann noch am selben Tag seine Überlegungen ausdrucken und zu einem Gebäude zusammenbauen können. Dasselbe wird im Film, der Musik und allen anderen kreativen Prozessen passieren. Die Grenzen zwischen Vorstellung und Realität werden sich vollständig auflösen. Wollen wir das ignorieren oder wie Noah beginnen, Boote zu bauen? Die Flut kommt.

Peter Gabriel ist Musiker und Video-Künstler, bekannt wurde er in den Siebzigern als Gründer und Kopf der Band Genesis. Der Text ist eine der Antworten auf die Frage des Jahres, die das Onlinemagazin Edge.org insgesamt 197 Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern gestellt hat. Sie lautet heuer: "Welche Nachricht war für Sie wichtig?" Aus dem Englischen von Jens-Christian Rabe.

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