Zeitgeschichte:Wo Mitteleuropa zu Hause war

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Von der Metropole in die Provinz: Eine Ausstellung in Triest zeigt Aufstieg und Fall der italienischen Stadt.

Von Thomas Steinfeld

Im vergangenen Winter, erzählt der italienische Schriftsteller Claudio Magris, habe er einmal abends seinen Hund ausgeführt. Bei der Rückkehr habe er sich bei den Tasten des Aufzugs vertan und sei im vierten statt im fünften Stockwerk ausgestiegen. Die Tür zur Wohnung unter ihm habe leicht offen gestanden, der Hund sei hineingestürmt - und er selbst sei hineingegangen und habe sich auf das Sofa gesetzt, in völliger Verkennung seiner Umgebung. Und als kurz darauf der eigentliche Bewohner des Apartments hereingetreten sei, habe sich dieser höfliche Mensch freundlich nach seinem Befinden erkundigt, aber selbstverständlich nicht gefragt, was er denn in einem fremden Wohnzimmer wolle. Wenigstens zwei, drei Minuten habe es gedauert, bis ihm plötzlich bewusst wurde, dass hier etwas nicht stimmen könne, und als ihm seine Lage dann aufgegangen sei, habe er sich sehr alt gefühlt.

Vielleicht erzählt der 76 Jahre alte Claudio Magris die Geschichte häufiger. Denn sie ist auch deshalb schön, weil sie als Geschichte Triests, der Heimatstadt des Schriftstellers, verstanden werden kann. Seit bald achtzig Jahren lebt er darin, und immer noch glaubt er, dort zu Hause zu sein - doch vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass diese Stadt gar nicht mehr die seine ist: der Ort nämlich, an dem, mehr als irgendwo anders, die Idee von "Mitteleuropa" zu Hause zu sein schien, die Vorstellung einer gemeinsamen, organisch gewachsenen Sphäre des Handels und der Kultur irgendwo östlich von Warschau oder Wien, die durch den Vertrag von Jalta zerstört worden war und auf ihre Auferstehung wartete.

Claudio Magris' berühmteste Bücher, vor allem seine "Biographie" der Donau aus dem Jahr 1986, sind dieser Idee gewidmet. Doch als das sowjetische Imperium zusammenbrach, kehrte "Mitteleuropa" nicht zurück. Die Vorstellung hatte zur Feindschaft des Westens gegenüber den kommunistischen Staaten Europas gehört, als mehr oder minder sentimentale Beschwörung einer ebenso weiträumigen wie zivilen Welt, die in den Diktaturen des Ostens zugrunde gegangen sein sollte.

In den späten Jahren des Habsburger Reiches war Triest der Seehafen eines Imperiums. Was damals geschah und wie die Stadt aussah, lässt sich gegenwärtig im ehemaligen Fischmarkt von Triest betrachten, in Gestalt der Ausstellung "La grande Trieste, 1891 - 1914". Einer der wichtigsten Häfen des Mittelmeers war Triest schon zuvor gewesen, deutlich größer als Venedig, mit regelmäßigen Schiffsverbindungen in den Nahen und Mittleren Osten, mit Eisenbahnverbindungen nach Wien und München. Als dann im Jahr 1891 die Zollfreiheit abgeschafft wurde, wandelte sich die Stadt von einem merkantilistischen Handelszentrum zum Warenumschlagplatz mit einem hohen Anteil an eigener Industrie, auf der Höhe der technischen Möglichkeiten jener Zeit - komplett mit elektrischem Licht, Stahlbetonbau und hydrodynamischer Energieversorgung für den Hafen. Der Österreichische Lloyd wurde zur größten Schifffahrtsgesellschaft des Mittelmeeres, mit Verbindungen nach Bombay, Shanghai und Yokohama, daneben entstand die nicht minder große Schifffahrtsgesellschaft Austro-Americana, und die Assicurazioni Generali versicherten zuerst Österreichisch-Ungarn und dann die halbe Welt.

Franz Kafka bewarb sich hier um eine Anstellung, James Joyce unterrichtete als Sprachlehrer

Der ehemalige Fischmarkt in Triest ist eine hohe Stahlbetonhalle aus der Zeit um 1900, in die die Ausstellung eher hineingehängt als gebaut wurde, mit schwebenden Tafeln anstatt Stellwänden. Zwar besteht ein Teil der Exponate aus groß aufgezogenen alten Fotografien. Das stört jedoch wenig, weil die hängenden Tafeln eine Illusion von städtischer Umgebung schaffen - und die Dinge, die dazwischen zu finden sind, zum Beispiel in ehemaligen Fischkästen, interessant genug sind: die Bewerbung Franz Kafkas um eine Anstellung bei den Assicurazioni Generali zum Beispiel, die Register der großen Schiffe mitsamt Modellen, die Dokumentation der avancierten Bautechnik, mit der das österreichische Viertel um den "Canal Grande" errichtet wurde, die Hinterlassenschaften einer heftigen Begeisterung für die Oper, zumal für Giuseppe Verdi, das Varieté und das Kino.

Während die italienische Sprache und Kultur, die das tägliche Leben in der Stadt bestimmten, und die österreichisch verfasste Wirtschaft sich immer weiter voneinander entfernten, muss es zumindest unter den Reichen und Mächtigen Triests ein Selbstbewusstsein gegeben haben, das nur noch wenig mit einem Grenzgebiet zwischen Italien, dem Balkan und Österreich zu tun hatte, um so mehr aber sein Gegenüber in den europäischen Metropolen suchte. Als diese Welt dann im Ersten Weltkrieg unterging, ließ sie eine moderne, intakte Stadt zurück, deren Bedeutung vor allem Vergangenheit war. Fortan lag sie in tiefer Provinz.

Es war aber die lebendige, weltläufige Stadt gewesen, in die James Joyce im Jahr 1905 gekommen war, um für die Berlitz School als Sprachlehrer zu arbeiten, eine Stadt, hinter der sich ein ganzes Imperium aufspannte. Ein Dutzend Mal wohl zog der Schriftsteller mit seiner Familie um in den knapp zehn Jahren, die er hier lebte, und zwar nicht nur, weil ihm immer wieder das Geld ausging, sondern auch, weil er mitten in der Stadt wohnen wollte, in den Vierteln Triests, in denen sich der Anspruch, Großstadt zu sein, tatsächlich repräsentierte.

In der Ausstellung hängt daher wandgroß eine Passage aus "Giacomo Joyce", einer poetischen Skizze aus den Jahren 1914/15, in der (auf eine Weise, die für den Roman "Ulysses" programmatisch ist), Dublin und Triest ineinander übergehen, in einer Symphonie ("simphony") der Gerüche, im "Schweiß der zu verheiratenden und verheirateten Frauen, im seifigen Gestank der Männer". Und oben am Hang über der Bucht wohnte der Farbenfabrikant Ettore Schmitz, der sich als Schriftsteller Italo Svevo nannte, und wenn nicht er selber es tat, so ließ doch seine Frau keinen Zweifel daran, welcher Klassenunterschied zwischen erfolgreichen Unternehmern und ihren irischen Sprachlehrern bestand. Nun aber, als Kulturgeschichte betrachtet, rücken die beiden Schriftsteller enger zusammen, als sie es im Leben, bei aller gegenseitigen Achtung, je zu tun vermochten.

Auch als das sowjetische Imperium zerfallen und die jugoslawischen Bürgerkriege beendet waren, wurde aus Triest keine Metropole mehr. Die Handelswege führen längst über andere Orte, über den Hafen Koper in Slowenien zum Beispiel. In dunklen Augenblicken, sagt Claudio Magris, denke er, dass sich Triest zu Italien verhalte, wie Italien es zu den reichen Staaten der Europäischen Union tue. Triest sei Italien gleichsam vorausgegangen. Das Gefühl, in der falschen Wohnung gelandet zu sein, scheint ihn zu begleiten.

La grande Trieste, 1891- 1914 . Salone degli incanti/Pescheria, Triest. Bis 21. Juni, Infos unter http://salonedeglincanti.comune.trieste.it.

© SZ vom 27.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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