Zeitgeschichte:Was hinter dir liegt ...

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Eine Flüchtlingsgeschichte aus dem Jahr 1941: deutsche Exilanten versuchen, Hitlers Zugriff zu entgehen. Erzählt als Abenteuer eines Jungen.

Von Fritz Göttler

Der Hund kommt in den Kochtopf auf dem Herd, Rolf bindet sich eine Schürze um und setzt eine Mütze auf den Kopf, auf den Topf kommt ein Deckel. Sein Vater Ludwig soll sich im Schrank verstecken. Razzia in dem kleinen Café in Marseille, drei Mannschaftswagen der Polizei, die Flüchtlinge versuchen wegzulaufen. Es ist das Jahr 1941, Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland sind im Süden Frankreichs gestrandet.

Rolf und der Vater sind bei der Razzia nicht spontan aufs Klo geflohen - "weil sie da immer als Erstes suchen" -, sondern in die Küche: "Die Küche ist den Franzosen heilig, sie werden es nicht wagen, hier unerlaubt einzudringen." Aber natürlich wagt es einer der Polizisten doch, nähert sich dem Herd. "Dir ist übrigens das Feuer ausgegangen", mahnt er Rolf, und der muss notgedrungen die Flamme unter dem Topf entzünden. Wird der Hund womöglich kläffen, wenn es ihm zu heiß wird, "Was ist denn das für eine Suppe?", fragt der Polizist neugierig und streckt die Hand nach dem Topfdeckel aus ...

Die Razzia ist eine der kleinen komischen Episoden in dieser Fluchtgeschichte. 1940 hatte die Wehrmacht Frankreich überfallen, das hat die Situation derer, die vor den Nazis fliehen mussten, drastisch verschlechtert. Der Süden blieb unbesetzt, aber die deutsche Geheimpolizei war durchaus aktiv dort. "Wir zappeln hier wie die Fische im Netz." Rolf und sein Vater Ludwig, ein Autor, wollen nach Spanien, mit gefälschten Papieren, dann weiter mit dem Dampfer nach New York, dort wartet die Mutter Katja auf die beiden.

Mit dem Zug geht es nach Banyuls-sur-Mer, von dort über die Pyrenäen, der junge Manuel wird sie führen, auf einem Schmugglerpfad - viele deutsche Exilanten haben diesen Weg wählen müssen, auch Walter Benjamin oder Heinrich Mann. Rolfs Vater schafft es nicht, er wird beim Aufstieg verhaftet. Rolf muss allein weiter mit Manuel und mit dem Terrier Adi - der, despektierlich, nach Hitler benannt wurde. Die zwei Jungs lernen sich kennen und verstehen, das Großstadtkind aus Berlin und der Hirtenjunge. Rolf lernt Forellenfischen mit einem spitzen Ast, und er bringt Manuel das Schwimmen bei. Natürlich korrigiert er auch immer wieder Manuels radebrecherisches Deutsch. Sie verstecken sich vor deutschen Patrouillen und begegnen jungen Partisanen. Sie kämpfen mit einem Bären, klettern auf fahrende Züge wie die Hobos in Amerika. Ein Umweg führt sie in den Wallfahrtsort Lourdes.

Manchmal muss die Imagination helfen gegen die harte Realität. Rolf hat ein einziges Buch dabei, "Der 35. Mai" von Erich Kästner, in dem eine ganz andere Form des Reisens geschildert wird. Die Geschichte eines Jungen, der mit seinem Onkel in die Südsee fährt. Mit dem Schiff? Einem Flugzeug? "Weder noch, sie gehen durch einen Schrank, der hinten offen ist. Zusammen mit dem sprechenden Pferd." Rüdiger Bertrams Buch ist eine politische Abenteuergeschichte, in der es um Mut und Hoffnung geht, um jugendliche Unternehmungslust. Sie funktioniert unaufdringlich, kommt nicht moralisch daher. "Weil nicht alles gut oder böse nur", erklärt Manuel. "Manchmal Mensch gut und dann selbe Mensch auch böse. Und umgekehrt."

Erich Kästner ist einer der wenigen, die in Berlin geblieben sind, auch wegen seiner Mutter. Kein Nazi. Er war ein Freund von Rolfs Vater, und er hat dem damals kleinen Rolf eine Widmung in dessen "35. Mai" geschrieben: "Schau immer voran und denke daran: Was hinter dir liegt, nur halb so viel wiegt."

R üdiger Bertram: Der Pfad. Die Geschichte einer Flucht in die Freiheit. Mit Comicas von Heribert Schulmeyer. cbj, Verlag, München 2017. 236 Seiten, 12,99 Euro.

© SZ vom 02.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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