Zeitgeschichte:Die Zukunft der Erinnerung

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Ein geheimnisvoller Mann rettet ein jüdisches Kind aus Warschau, dessen Vater verschwindet und das auf der Straße steht. Es beginnt eine zweijährige Odyssee im Grenzgebiet Polen-Deutschland.

Von Christine Knödler

Mehr als 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Erzählen über Nationalsozialismus und Holocaust unverändert wichtig. Im besten Fall informiert es, immunisiert gegen jede Form totalitären Denkens und Handelns. Es greift in die Gegenwart ein. Denn Erinnerung braucht und macht Zukunft.

Gerade für ein jüngeres Publikum will ein Genre-Mix aus historischen Elementen mit solchen des Fantastischen, der Spannung, der Unterhaltung, des Krimis, des Thrillers oder des Abenteuers zeitgeschichtliche Romane interessanter machen. Nicht immer ist ein derartiges Aufpeppen zum Besseren der Bücher und ihrer Leser. NS-Folklore vernebelt Fakten, bloße Betroffenheit erschwert Erkenntnis, Sensation verhindert Selbstdenken. Aber literarischer Anspruch und formaler Wagemut sind größer geworden.

Anna und der Schwalbenmann, das Debüt des amerikanischen Schauspielers, Sängers und Autors Gavriel Savit, ist dafür ein Beispiel, das auch erwachsene Leser in seinen Bann zieht. Sprache und Sprechen als Mittel der Verständigung, der Begegnung jenseits aller Ängste und Vorurteile, als Ausgangspunkt jeder Erkenntnis und Poesie, sind der rote Faden. Der siebenjährigen Anna ist ein solches Sprach- und Selbstverständnis vertraut. Sie kennt dank ihres vielsprachigen Vaters selbst viele Sprachen. Als er, Professor an der Universität, abgeholt wird, ist ihr behütetes Leben als jüdisches Kind in Warschau plötzlich zu Ende. Sie bleibt allein auf der Straße. Sie trifft den Schwalbenmann. Er wird dafür sorgen, dass Anna überlebt.

Wie ein Zauberer kommt er ihr vor, wie er die Vögel anlockt, weil er ihre Sprache versteht. In seiner alten Arzttasche sein ganzer Besitz. Zu dem gehören der feine Anzug des Intellektuellen, Hemd und Hose des einfachen Mannes, als seien es Kostüme. Und es stimmt ja: Davonkommt nur, wer sich unsichtbar macht, oder, so die erste Lektion an Anna: "Gefunden werden heißt für immer verloren zu sein." Wie ihr Vater. Dass er von den Nazis ermordet werden wird, ahnt sie zunächst nur: "Anna fühlte sich in der Stille ertrinken. Zum ersten Mal hatte sie es gesagt: Sie glaubte nicht, dass ihr Vater zurückkam." Und so wird sie mit dem Schwalbenmann durch das Land mitten im Krieg ziehen, er in immer anderen Rollen, die sie beide schützen.

Ihnen schließt sich Reb Hirschl an, Musiker und Gegenpol zum Schwalbenmann. Er singt und lacht mit Anna. Überleben wird er nicht. Weil er zugleich für die zahllosen verfolgten und ermordeten Juden steht, bleibt seine Identität ein Geheimnis. So wie auch die des Schwalbenmanns: Er könnte zu den vielen gehören, die, vormals geistige Elite, jetzt als Vogelfreie gejagt werden. Sogar der Wald, den er und Anna jahrelang durchwandern, weist über den konkreten Ort hinaus. Zwar überqueren sie die reale Grenze zwischen Polen und dem damaligen Deutschen Reich, zwar überstehen sie Hunger, Durst, Einsamkeit, doch der Wald ist zudem märchenhafte Kulisse, eine Allegorie für zeitlose Aussage: Finster und auch so bitterkalt lehrt er das Fürchten in einer bewusstlosen Zeit.

Denn der Roman, klug und konsequent konstruiert, macht die Möglichkeit neuen Erzählens vor: Die Sprache des Überlebens ist selten brachial, vielmehr poetisch. Vieldeutigkeit als narratives Muster, gilt für die eindringlichen Bilder genauso wie für Figuren und Situationen. Der Zwiespalt einer Annäherung ohne Nähe etwa, um nicht schutzlos zu werden, war so noch nicht zu lesen. "Die Worte, die er nicht sagte, waren genauso bedeutungsvoll wie die, die er sagte", heißt es über den Schwalbenmann. Dies gilt genauso für den Roman. Der stellt Fragen und lässt sie stehen, weil es keine Antworten gibt. Der sucht und benennt in der Andeutung das Konkrete, im Konkreten das Allgemeingültige, im Real-Zeitgeschichtlichen das Zeitlose und wird so zu einer Parabel des Überlebens für eine Zukunft der Erinnerung. (ab 14 Jahre und Erwachsene)

Gavriel Savit : Anna und der Schwalbenmann. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz-Ventura, cbt 2016. 288 Seiten, 16,99 Euro.

© SZ vom 01.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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