Zeitgeschichte:Bedeutende Falten

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Berlin vor zwanzig Jahren: Wie die Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude und der Massenandrang bei der Love-Parade die Stadt verändert haben.

Von Jens Bisky

Mehr als zwanzig Jahren hatten Christo und Jeanne-Claude auf die Erlaubnis warten müssen, den Reichstag zu verhüllen, aber als am 24. Juni 1995 die Bahnen aus aluminiumbedampftem Polypropylengewebe angebracht, abgerollt und mit einem blauen Kunststoffseil verschnürt waren, geschah dies im richtigen Augenblick. Vierzehn Tage glänzte und schimmerte die Draperie unter dem Himmel über Berlin und veränderte den Blick der Einwohner auf ihre Stadt. Selten hatte bloßer Faltenwurf so weitreichende Folgen.

Im Jahr 1971 hatte der amerikanische, in Westberlin lebende Historiker Michael S. Cullen eine Postkarte von Paul Wallots Parlamentsgebäude an Christo geschickt, verbunden mit der Aufforderung, es einzuhüllen. Man stelle sich vor, das Projekt wäre schon Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger genehmigt worden; der Kalte Krieg hätte die Wahrnehmung verzerrt.

Da aber erst die Mauer fallen und der Bundestag debattieren musste - 292 zu 223 Stimmen dafür -, bevor Christo und seine Frau die Verhüllte Reichstag GmbH gründen konnten, wurde ihr temporäres Werk zum Auftakt für eine Neuerfindung Berlins. Damals, 1995, berichteten Hauptstadtjournalisten noch aus Bonn; die S-Bahn hielt noch am Lehrter, nicht am Hauptbahnhof; Ost- und Westteil der Stadt zeigten wenig Lust auf weitere Vereinigung. Die einen litten unter der Deindustrialisierung, die anderen unter dem Wegfall von Subventionen, dem Senat war nach dem Scheitern der Olympiabewerbung 1993 nichts Zündendes mehr eingefallen. "Mißmutige Umtriebigkeit" konstatierte die Schriftstellerin Monika Maron, aber plötzlich stand da, "verlockend und flüchtig wie eine Fata Morgana, Christos verhüllter Reichstag, und die Berliner tun etwas, das der Senat seinen öffentlichen Bediensteten in Fortbildungskursen vergebens beizubringen versucht: Sie lächeln."

Umsonst und draußen, das läuft in Berlin meistens gut. Fünf Millionen sollen zum Reichstag gekommen sein, so viele wie zu keinem anderen Werk Christos, der vor wenigen Tagen seinen 80. Geburtstag feierte. Jeanne-Claude verstarb 2009, gewiss wird man eines Tages eine Berliner Straße nach dem Paar benennen. Berliner kamen und ihre Gäste, Straßenkünstler, Musiker aus halb Europa, Neugierige - wer wollte schon das Ereignis verpassen! Über die Geschichte des Reichstags wurde geredet, über ein neues Selbstbild der Republik, und auf der Wiese vor dem Reichstag erprobte man heitere, friedvolle Gelassenheit. Für vierzehn Tage fand die Stadt ihr Zentrum, ihren Marktplatz mitten im Regierungsviertel, das noch keines war.

Während nach vierzehn glücklichen Tagen Tieflader auf der Straße des 17. Juni darauf warteten, das silberne Gewebe abzutransportieren, lockte ein anderes Großereignis Hunderttausende in die Stadt, auch diesmal eine West-Berliner Idee, aber eine, die auch im Osten ihre Bastionen, ihre Clubs hatte: die Love-Parade. 1995 zogen die Wagen zum letzten Mal über den Kurfürstendamm und zum Wittenbergplatz. Selbstverständlich gab es Streit, der Innensenator wollte die Parade der "Ekstase-Brigaden" (Rainald Goetz) nicht als Demonstration werten, damit die Stadt nicht allein für die Müllentsorgung aufkommen musste. Bleibend aber war die neue Inszenierung von Gemeinschaft, wie der Gegenwartsekstatiker Rainald Goetz zuerst erkannte. Jedes Ich war verschieden, klar, das war keine große Nummer, davon ging man aus: "Abweichung, Individualität, Differenz, die an ihrer Selbstabschaffung arbeitet, um aufgehen zu können selig im Einen eines Gemeinsamen." Das war "genau andersherum" als bundesrepublikanisch eingeübt.

1996 zog die Love-Parade dann über die Straße des 17. Juni, der Reichstag bekam wieder eine Kuppel, Berlin gewöhnte sich an Großereignisse, wurde süchtig nach "Sommermärchen", nach Gelegenheiten, sich mit sich selbst zu imponieren.

© SZ vom 24.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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