Zeitgeschichte als Abenteuer:Der Mann mit dem Koffer

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Pei-Yu Chang: Der geheimnisvolle Koffer des Herrn Benjamin. NordSüd, Zürich 2017. 48 Seiten, 18,00 Euro. (Foto: Verlag)

Die Illustratorin Pei-Yu Chang folgt dem Philosophen Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis über die Pyrenäen.

Von Karin Gruss

Verfolgung, Vertreibung, Flucht - die Medien sind voll davon. Auch Kinder werden täglich mit diesen Berichten konfrontiert. Worte, Bilder und Begegnungen haben sichtbar und nachhaltig Wirkung auf eine junge Generation, die sich in Frieden und Wohlstand mit den Folgen von Kriegen auseinandersetzen und gegenüber jenen Menschen eine Haltung entwickeln muss, die bei uns nicht nur Schutz, sondern auch Verständnis suchen.

Die Künstlerin Pei-Yu Chang, in Taiwan geboren, legt mit der Abschlussarbeit ihres Illustrationsstudiums an der FH Münster nun ein höchst bemerkenswertes Bilderbuchdebüt vor, das die wahre Geschichte einer Flucht als Gleichnis erzählt.

"Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin", der, ein "außergewöhnlicher Mann und Philosoph" war - mit "brillanten Ideen aller Art"- , nimmt seine Leser mit auf eine Zeitreise in ein Land, in dem "alle Menschen, die solche Ideen hatten, verhaftet werden". Im Dienste der Mächtigen schickt man bewaffnete Soldaten aus, um diese Menschen und ihre unbequemen Gedanken zu verfolgen und einzusperren. Vielen gelingt die Flucht in ein "Nachbarland, wo man wegen seiner Ideen nicht in Schwierigkeiten geriet". Auch Herr Benjamin entschließt sich, seine Heimat zu verlassen. Der geheime Wanderweg durch die Berge ist lang und beschwerlich, und ohne die Hilfe der mutigen Frau Fittko nicht zu schaffen. Im Schutze der Nacht warten die Flüchtenden an der Grenze, bis endlich auch Herr Benjamin erscheint - mitsamt einem großen und schweren Koffer. Trotz Ungeduld und Unverständnis aller weigert er sich, seinen Koffer zurückzulassen. "Ich kann nicht, antwortete er. "Was in diesem Koffer ist, kann alles verändern. Er ist mir wichtiger als mein Leben !"

Für das zentrale Motiv des Koffers wählt Chang ein kräftiges Rot, die Farbe des Lebens. Sie arbeitet mit grobem Bleistiftstrich, in Frottage- und Wischtechnik und oft stark kontrastierenden Farben; schneidet Figuren und Requisiten aus, um sie als Collagen in spannungsvolle Bühnenräume zu setzen. Mit ikonografischen Verweisen auf die NS-Zeit und nahezu schemenhafter Darstellung der Verfolgten, die, ihrer Individualität beraubt, geradezu ausradiert erscheinen, gestaltet die Künstlerin die historisch belegte Flucht des Philosophen Walter Benjamin (1892 - 1940) vor der Gestapo als eine aktuelle, für Kinder gut verständliche Geschichte unserer Zeit. Auch der Koffer ist verbrieft; bis heute mutmaßen Forscher und Wissenschaftler über seinen Verbleib und Inhalt.

"Wenn ein so kluger Mann unbedingt einen schweren Koffer über die Berge schleppen wollte, dann hatte er bestimmt einen guten Grund dafür." Für Herrn Benjamin misslingt die Flucht an der Grenze zur Freiheit. Seine Spur verliert sich in einem kleinen Pyrenäendorf: "Dann war er verschwunden - und mit ihm der Koffer, der ihm so wichtig gewesen war."

Was würden wir bei Nacht und Nebel in unseren Fluchtkoffer packen; was in eine ungewisse Zukunft mitnehmen? Kleidung, Nahrung, Erinnerungen? Dinge, die das Überleben sichern, oder Wünsche und Visionen, die unser Leben überdauern? Eine poetische, politisch aktuelle Geschichte über die Werte und Geheimnisse des Lebens - für kluge Frager und neugierige Weiterdenker. (ab 6 Jahre)

© SZ vom 23.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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