Zeitgeschehen:Welcher Prophet hat gelogen?

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Die Briten haben zwei Tote entdeckt: Ein weltoffener Dichter lag in einem ehemaligen Weinkeller. Und ein Rassist lebt im Rundfunk wieder auf - seine Hetzrede gegen Immigranten wird auf BBC gesendet.

Von Alexander Menden

Jüngst wurden gleich zwei englische Leichname ausgegraben: der eine ein willkommener Fund in einem Weinkeller, der andere eine Mumie aus der Gruft der britischen Politik. Es handelt sich um einen seltsamen, aber doch bedeutsam erscheinenden Zusammenfall der Ereignisse. Erfreulich war zunächst die Entdeckung der letzten Ruhestätte von Samuel Taylor Coleridge. Der Schöpfer von Gedichten wie "Kublah Kahn" und "The Rime of the Ancient Mariner", neben Wordsworth wichtigster Dichter der ersten Generation englischer Romantiker, lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1834 in einem Haus im heutigen Londoner Stadtteil Highgate. Wo er begraben lag, war in Vergessenheit geraten, seit man den Sarg 1961 aus der nahegelegenen Old Highgate Chapel umgebettet hatte. Nun fand sich bei der Untersuchung der Krypta der St Michael's Church gegenüber seinem früheren Haus ein zugemauerter Hohlraum. Darin stand ein bleiverkleideter Sarg, in dem, wie sich herausstellte, Coleridges sterbliche Überreste ruhen. Der Raum aus dem 17. Jahrhundert war früher ein Weinkeller und wurde beim Bau der Kirche in deren unterirdisches Gewölbe inkorporiert.

Der Tory-Abgeordnete Powell hetzte gegen Immigranten - seine Rede wird wieder gesendet

Kaum ein Kommentator konnte sich die Bemerkung verkneifen, welch passende Ruhestätte dies für einen Trinker wie Coleridge sei. Weit relevanter für den gegenwärtigen beklagenswerten Zustand des Verhältnisses der Briten zum Rest Europas ist aber, dass der Dichter mehr als jeder vor ihm dafür tat, kontinentale philosophische Strömungen wie den deutschen Idealismus in England bekanntzumachen. Coleridge blickte über die Grenzen seines Landes hinaus. Er wies auf die Bedeutung von Permanenz und Gemeinschaftsgefühl für eine Gesellschaft hin, war dabei aber nie provinziell oder nationalistisch.

Es ist ein interessanter Zufall, dass die letzte Ruhestätte eines Mannes von solch geistiger Großzügigkeit zu einem Zeitpunkt wieder auftaucht, an dem einer der berüchtigtsten Reden der britischen Nachkriegszeit gedacht wird. Anlässlich ihres 50. Jahrestages am Freitag hat der Sender BBC Radio 4 den Schauspieler Ian McDiarmid den gesamten Text von Enoch Powells "Rivers of Blood"-Rede verlesen lassen. Der Tory-Abgeordnete hatte 1968 davor gewarnt, die einheimische Bevölkerung Englands werde bald von Immigranten überrannt und beherrscht werden. Sollten noch mehr Schwarze aus den ehemaligen Kolonien immigrieren, würde es bürgerkriegsähnliche Zustände geben. Powell wurde daraufhin von der Times als Rassist gebrandmarkt und vom damaligen konservativen Partei- und Oppositionschef Ted Heath aus dem Schattenkabinett entfernt.

Die Ausstrahlung stieß auf Kritik, gab aber Powells zahlreichen Bewunderern auch Gelegenheit, ihn wieder einmal als "Propheten" der drohenden Überfremdung zu preisen. Dass dieser Jahrestag in die Woche fällt, in der die britische Regierung eingestehen musste, legal in Großbritannien lebende Bürger aus der Karibik widerrechtlich ausgewiesen zu haben, lässt die Idee noch absurder und gefährlicher erscheinen, Powells Fremdenfeindlichkeit nach einem halben Jahrhundert landesweit zu senden.

Für die britische Rechte war Powell ein politischer Märtyrer, seine Rede bleibt einer der bedeutendsten Bezugspunkte für jene politische Bewegung, die letztlich zum EU-Ausstieg führte. Was hätte Samuel Taylor Coleridge zum Powell-inspirierten Brexit gesagt? Vielleicht das, was er 1817 in seinen "Biographia Literaria" schrieb: "Jede Reform, so notwendig sie auch immer sein mag, wird von Menschen schwachen Geistes zu einem solchen Exzess getrieben, dass sie selbst wieder der Reform bedarf."

© SZ vom 19.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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