Zeitdokument:Wahnsinn und Hunger

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Das Ergebnis inkompetenter Führung: Théodore Géricaults „Das Floß der Medusa“. (Foto: Musée du Louvre)

Neu herausgegeben: Der verstörende Bericht vom "Schiffbruch der Fregatte Medusa".

Von Alex Rühle

Das Bild hier ist so berühmt, so tief eingesunken in den Bilderkanon, dass es seine düstere Wucht längst verloren hat. Als "Das Floß der Medusa" aber erstmals gezeigt wurde, hatte es die Wirkung eines Rammbocks. Nachdem Delacroix es erstmals zu Gesicht bekommen hatte, "war der Eindruck so lebhaft, dass ich nach Verlassen des Ateliers wie ein Verrückter durch die Straßen lief".

Er schrieb das 1819, auf dem Höhepunkt der Restauration. Napoleon saß im Exil auf St. Helena, Ludwig XVIII. hatte nach Revolution und Bonapartismus lauter königstreue Vasallen in Schlüsselpositionen gehievt, Kompetenz spielte keine Rolle, Hauptsache die Leute hassten die Revolution und den Emporkömmling Napoleon. Sogar die Kunst war brav: Auf dem Pariser Salon im Louvre wurden in dem Jahr lauter Historienschinken gezeigt, Heilige, Könige, Helden aus fernen Zeiten. Mittendrin aber dieses düstere Drama aus der Gegenwart: zusammengezimmerte Bretter in hoher Dünung. Im Vordergrund abgezehrte, bleiche Leiber, einige schimmern bereits leichengrün. Die Lebenden im hinteren Bereich des Floßes scheinen zusammenzufließen in dem verzweifelten Winken in Richtung Horizont, an dem der Hoffnungspunkt eines Mastes auszumachen ist. Und dann ist da noch der Mann, der den Betrachter anschaut, in seltsam unbeteiligter Grüblerpose. Diesem Mann wollte Géricault ein Denkmal setzen, als er sein revolutionäres Gemälde malte. Schließlich weiß die Nachwelt nur durch ihn, den Schiffsarzt Jean-Baptiste Henri Savigny, wie um alles in der Welt es passieren konnte, dass die Medusa, eine der modernsten Fregatten ihrer Zeit, bei bestem Wetter vor der Küste Westafrikas Schiffbruch erlitten hatte. Anfangs hatten sich 150 Menschen auf das Floß gedrängt. Als es 13 Tage später entdeckt wurde, lebten noch 15 von ihnen. Sie alle waren in der Zwischenzeit zu Mördern und Kannibalen geworden. Der französische Marineminister schrieb an den König, dass die Geschehnisse auf dem Floß "besser für alle Zeiten der Menschheit verborgen bleiben sollten". Savigny aber dachte nicht daran, sondern begann, assistiert von dem Ingenieur Alexandre Corréard, kaum dass sie gerettet worden waren, das ganze Grauen aufzuschreiben.

Savignys Schilderungen sind der reinste Horror, der seine Wirkung aber gerade deshalb entfaltet, weil der Schiffsarzt so verzweifelt klar und nüchtern schreibt. Und während auf der Oberfläche des Textes dieses Floß tagelang vor sich hin treibt, versinken in den tieferen Textschichten nicht nur all die namenlosen Menschen, die über Bord gehen, sondern sehr schnell auch alle hehren Ideale der europäischen Zivilisation: Bereits am vierten Morgen ihrer Odyssee werfen die Überlebenden zwölf Leichen dieser Nacht ins Meer, behalten aber einen weiteren Toten an Bord, "welcher nun denen zur Nahrung dienen sollte, die noch den Tag zuvor seine zitternde Hand gedrückt und ihm ewige Freundschaft geschworen hatten". Da Savigny aber außerdem die Vorgeschichte des Untergangs so genau und kühl umreißt, ist sein Text eben nicht nur das Protokoll einer Katastrophe, sondern zugleich ein Frontalangriff auf die Restauration, auf ein Staatsschiff, das allein aufgrund von Dummheit und Inkompetenz Schiffbruch erleidet: Der Marineminister hatte nach Ludwigs Thronbesteigung Hunderte Offiziere entlassen und durch aristokratische Royalisten ersetzt. Auftritt Hugues Duroy de Chaumareys, ein Mann, der zuletzt vor der Revolution ein Schiff befehligt hatte. Er sollte die Méduse nach Senegal steuern. Wie so oft bei inkompetenten Chefs, vertraute dieser Chaumareys nicht seinen fähigen Offizieren, sondern zwei narzisstischen Schwadroneuren. Durch ihre Navigationsfehler und diverse Fehlentscheidungen Chaumareys' strandete die Méduse auf der unter Seefahrern gefürchteten Arguin-Sandbank rund 30 Meilen vor der afrikanischen Küste. Selbst dann noch hätte niemand sterben müssen. Aber die Rettungsboote, die anfangs versprochen hatten, das Floß ins Schlepptau zu nehmen, kappten bald schon die Leinen und überließen die 150 Menschen den Wellen, dem Wahnsinn und dem Hunger.

Wahrscheinlich ist diese dreifache Lesart (Katastrophenbericht, Parabel, Politkrimi) der Grund dafür, dass Savignys Text so außergewöhnlich viele Künstler animiert hat. Es gibt neben Géricaults Gemälde eine Oper, ein Oratorium, einen Film und vier Romane über die Geschehnisse auf der Medusa. Der Berliner Verlag Matthes und Seitz, den man für seine französische Reihe ohnehin mal mit Lorbeer und Blumen beschmeißen sollte und der Savignys und Corréards Text, angereichert durch zwei fundierte Aufsätze über die geschichtli-chen Zusammenhänge und die Bedeutung des Géricault-Gemäldes, erstmals 2005 herausbrachte, hat diesen nun nochmals ins Programm gehoben. Wenn man den Bericht heute liest, ist es fast unmöglich, bei der Beschreibung des narzisstisch gestörten Feiglings und Ignoranten Chaumareys' nicht an Trump, Farage und all die anderen zerstörerischen Polit-Havaristen unserer Tage zu denken.

Sechs der 15 Überlebenden starben übrigens nach ihrer Rettung an Entkräftung oder an ihren Verletzungen. Savigny selbst litt zeit seines Lebens an "nervösen Attacken" und starb mit 49 Jahren. Corréard glitt in Irrsinn und Albträume weg und verdämmerte auf seinem Landsitz bei Fontainebleau.

Jean-Baptiste Savigny, Alexandre Corréard : Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Mit einem Nachwort von Johannes Zeilinger und einem Essay zu Théodore Géricaults "Floß der Medusa" von Jörg Trempler. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 253 Seiten, 26 Euro.

© SZ vom 20.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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