"Wurfschatten" von Simone Lappert:Die kleine Weh-Jungfrau

Lesezeit: 5 min

Wenn das eigene Innenleben zum Abenteuer wird: In Simone Lapperts Debüt "Wurfschatten" bereitet sich die hypochondrische Ada aufs Sterben vor. Leider reflektiert der Roman nicht, sondern schildert nur die Oberfläche.

Von Dana Buchzik

Ada teilt sich eine Zweiraumwohnung mit ihren Ängsten. In einem Zimmer versucht sie zu schlafen, im "Therapiezimmer" bleiben die Ängste wach. Hier sind die Wände voller Fotos, Internetausdrucke und Zeitungsartikel. Nahaufnahmen zerfetzter Gliedmaßen, vergrößert auf Plakatformat. Offene Wunden unter Tesafilm. Erdbebentrümmer, mit Reißzwecken zusammengeheftet. Röntgenbilder, die Ada auf dem Flohmarkt gekauft hat, Aufnahmen, die Tumore, Zysten und Gerinnsel zeigen - Schatten im Körperinneren, die vom Sterben erzählen. Die titelgebenden Wurfschatten von Passanten auf der Straße hingegen erzählen vom Leben, von Selbstverständlichkeiten, die Ada fremd geworden sind. "Jede Schädeldecke eine Kompassscheibe, jeder Scheitel eine verlässliche Nadel", denkt die 25-Jährige. Jeder Mensch außer ihr, so unterstellt sie, funktioniert mühelos.

Ada, eigentlich Adamine, verbringt Stunden in ihrem Therapiezimmer, dekliniert ihr Angstalphabet von A wie Attentat bis Z wie Zyste durch. Seit ihrem Abschluss an der Schauspielschule lässt sie Vorsprechtermine an großen Theatern regelmäßig platzen und hält sich stattdessen mit kleineren Jobs über Wasser; so bleibt für Sorgen genug Zeit.

Ada wirkt wie eine Trittbrettfahrerin des Fräuleinwunders 2.0

In Ada hat Simone Lappert eine Protagonistin erschaffen, die auch in Judith Hermanns Geschichten Platz fände. Hermanns Debüt "Sommerhaus, später" skizziert Menschen, die, von materiellen Nöten unberührt, auf ihren Betten liegen und sich fürs Sterben bereit machen - selten ein Sterben am Alter, häufiger ein inneres, ein vorgestelltes Sterben, ein Sterben an Schönheit, Phlegma oder uneingestandener Langeweile.

Auch Hermanns Protagonistinnen wirken unberührbar unter ihren gläsernen Befindlichkeitstaucherglocken, auch bei ihnen gibt es keinen Drang, sich in der Welt zu beweisen: Ihr Berufungssubstitut ist die Selbsterforschung. Nicht zuletzt deswegen scheitert jeder müde Versuch einer Beziehung; in Judith Hermanns Geschichten bedeutet girl meets boy, wortkarg nebeneinanderher zu rauchen und sich einem überbordenden Gefühl der Aussichtslosigkeit hinzugeben. Introvertierte Männer und Frauen, deren Gedanken sich mit einem Heine-Zitat - "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin" - zusammenfassen lassen: Das war Ende der Neunzigerjahre Judith Hermanns Erfolgsrezept.

"Sommerhaus, später" wurde eine halbe Million Mal verkauft und in siebzehn Sprachen übersetzt; Fräuleinwundertrittbrettfahrer gab es seither zur Genüge. In jüngerer Vergangenheit waren es unter anderem Elisabeth Rank und Rebecca Martin, die den Sommerhaus'schen Ton mit ihren Coming-of-Age-Geschichten neu interpretierten. Ihre Protagonistinnen stapfen gelangweilt durch ein Leben, das keine existenziellen Sorgen kennt. Die jungen Autorinnen erzählen von einer Zeit des Nichtvorwärtskommens, von einem in die Länge gezogenen, finanziell weich abgefederten Schwellenmoment.

Modifiziertes Verständnis von Literatur

Ranks Protagonistin Rea packt kurz vorm 30. Geburtstag die Angst, alle wichtigen Clubs gesehen zu haben und nun erwachsen werden zu müssen, Martins Hauptfigur Elina lässt sich nach dem Abitur ein Jahr Zeit, um sich zu orientieren, was bedeutet, mit den Eltern Orangen-Fenchel-Salat zu essen, Champagner zu trinken und in der ersten eigenen Wohnung Geschirr ungespült stehen zu lassen, und Lapperts Protagonistin Ada drückt sich mithilfe ausgeprägter Neurosen vor dem Berufseinstieg.

Ranks, Martins und Lapperts Romane sind Ausdruck eines modifizierten Verständnisses von Literatur, das den Buchmarkt mehr und mehr prägt: Es wird kaum noch erwartet, dass Literatur reflektiert, konkrete Gedankenkraft für neue oder erweiterte Diskurse liefert. Man gibt sich damit zufrieden, wenn Romane akribisch Oberflächen schildern, und als Milieuabbildung funktioniert "Wurfschatten" hervorragend. Ada ist der Prototyp einer jungen, weißen, gebildeten Großstädterin, die gern feiern geht und vor Verantwortung zurückscheut. Obwohl "Wurfschatten" in der Schweiz spielt, wäre als Schauplatz problemlos Berlin einsetzbar. Nicht von ungefähr ist Lapperts Debüt Flaggschiff des Herbstprogramms des jungen Berliner Verlags Metrolit, der sich dem großstädtischen Zeitgeist verschrieben hat.

In Ranks, Martins und Lapperts Romanen wird das eigene Innenleben zum Abenteuer und die Außenwelt zur Kulisse erklärt: "Ich weiß, wie lange der Käse schon im Kühlschrank liegt, aber nicht, was der Nahostkonflikt macht, ich war noch nie so nah an allem dran . . . " heißt es etwa in Elisabeth Ranks Roman "Bist du noch wach?". Eine weitere Gemeinsamkeit besteht im ausgeprägten Narzissmus ihrer Protagonistinnen, die sich gern die Verliebtheit von Männern zunutze, selbst aber keinerlei Zugeständnisse machen wollen. Ranks Protagonistin Rea sonnt sich in der Anbetung ihres Mitbewohners Konrad und ist schwer gekränkt, als er sich schließlich eine Freundin sucht, die seine Gefühle erwidert. Lapperts Hauptfigur Ada vergrault jede Frau, die ihr Mitbewohner Juri anschleppt; sie will mit ihm in seinem Bett schlafen, aber nicht angefasst werden.

Ein seelisches Leiden ist mehr als eine malerische Wehmutspose

Juri hat zunächst verdächtig viel von einem der Fische aus Adas Zimmer-Aquarium: Er ist ein stummer, extrem duldsamer Mitbewohner, der nicht zu schlafen scheint. Er nimmt widerspruchslos hin, dass Ada sein Kühlschrankfach leer futtert und alle Frauen verjagt, die er mitbringt. Bald wird aus dem Fischmann ein Automat für psychologische Fragen und Antworten, eine therapeutische Attrappe, die vom Leben nichts weiter will, als alles über Adas Neurosen zu erfahren. Als Ada auf dem Friedhof potenzielle Grabstätten für sich besichtigt und dabei Juri begegnet, der um seinen ganz real verstorbenen Vater trauert, erzählt sie ihm, wie schwer sie es mit ihren Eltern hat. Und als Juri nach einem schweren Unfall im Krankenhaus liegt, berichtet sie ihm von der Last der Hypochondrie, die sie zu tragen hat.

Während Elisabeth Ranks und Rebecca Martins Romane eher wie tagebuchartige Skizzen daherkommen, die es dem Leser schwer machen, zwischen Autorin und Protagonistin zu unterscheiden, merkt man "Wurfschatten" deutlich an, dass Simone Lappert Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts ist. Sie bietet in ihrem Debütroman einen sauber konstruierten Plot und eine avancierte Sprache, beweist Gespür für frische, spielerische Bilder: Herrlich eigensinnig erzählt sie von der blassen Februarsonne, die den Passanten auf dem Gehsteig ihre Schatten zuspielt, von Regensynkopen und einzahlungsscheinfarbenen Pyjamas, von VW-Käfer-großen Walfischherzen, von Serien, die Gedanken zerpixeln können, und von Bärten, in denen sich Sommersprossen verfangen haben. Nichtsdestotrotz bleibt auch "Wurfschatten" ein Bericht von der Front wohlhabender Kinder.

Panikattacken, als wäre man in einem Musikvideo

Adas Atemnot während ihrer Panikanfälle ist nie so schlimm, dass es nicht mehr für den Anruf beim Taxiunternehmen reicht, um sich quer durch die Stadt fahren zu lassen. Das nämlich beruhigt ihre Nerven, und auch wenn ihr Konto bereits zu Beginn des Romans ins Minus gerückt wird, birgt es stets genug für Wein vom Bodensee, gutes Essen und nächtliche Taxifahrten.

Simone Lappert präsentiert diese Panikattacken, als befände man sich in einem Musikvideo, als würde Lana Del Rey im Hintergrund säuseln, während die Protagonistin, ein bisschen bleich, aber perfekt geschminkt im Taxi dem Meer entgegenfährt, wo der Wind sich sanft und dezent in die Frisur legt und alles wieder gut wird: "Meerwärts", sinniert Ada, "gab es nur mäßigen Wind und nackte Arme. Meerwärts lag die Möglichkeit, Zustände zu benennen und mit einem zufriedenen Seufzer die Jacke auszuziehen." Eigentlich aber ist es während einer Panikattacke nicht gemütlich, und es bleibt keine Zeit oder Kraft, sich poetische Gedanken zu machen.

Simone Lapperts Roman "Wurfschatten" hüllt pathologische Schlagworte in ein melancholisches Sprachmäntelchen, ähnlich wie beim Papageienfisch, von dem Adas ebenfalls fischaffiner Vermieter berichtet: Er fertigt sich nachts einen Schlafmantel an, der ihn gegen Feinde abschirmen soll.

Simone Lappert: Wurfschatten. Roman. Metrolit Verlag, Berlin 2014. 207 Seiten, 20 Euro, E-Book 16 Euro.

© SZ vom 05.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: