"Was ist deutsch?":Was hat es mit der deutschen Seele auf sich?

Rheintöchter aus Richard Wagners \"Götterdämmerung\", 1908

Es kommt auch auf die Akzentuierung an bei der Frage "Was ist deutsch?" - Wagners Rheintöchter in einer Pariser "Götterdämmerung", 1908.

(Foto: SZ/Scherl)

Der Germanist Dieter Borchmeyer folgt den Deutschen beim Versuch, sich ihre Geschichte zu erklären. Von Goethe über Wagner bis zu Walser - die Suche einer Nation nach sich selbst.

Buchkritik von Franziska Augstein

Die Deutschen, hartnäckig, ließen es mit einem Weltkrieg nicht auf sich beruhen. Wenig später begannen sie den Zweiten und setzten die fabrikmäßig betriebene Vernichtung von Millionen Menschen ins Werk. Seither fragen die Nachgeborenen, was faul war in deutschen Landen. War Luther mit seinen judenfeindlichen Tiraden, salopp gesagt, an allem schuld? Hatte Johann Gottlieb Fichte den Antisemitismus für Gebildete salonfähig gemacht, bevor der Begriff überhaupt in Schwang kam? Musste der preußisch-deutsche Militarismus auf zwei Weltkriege und Massenmord hinauslaufen? Was hat es mit der deutschen Seele auf sich, genauer mit der deutschen Unseligkeit? Solche Fragen bleiben, auch wenn die Bundesrepublik mittlerweile, mit Gerhard Schröder gesprochen, ein "normales Land" ist.

Das Buch des Germanisten Dieter Borchmeyer verspricht viel im Titel: "Was ist deutsch?" heißt es, und im Untertitel kündet es von der "Suche einer Nation nach sich selbst". Borchmeyers knappe Einleitung ist ausgezeichnet: Die bisher genannten Gründe, warum Deutschland 1945 ein Paria unter den Völkern war, fasst der Autor fein zusammen.

Deutsch war, wer "deutsch" sprach

Anders als etwa Britannien oder Frankreich war das Heilige Römische Reich kein Nationalstaat, sondern ein Konglomerat von Königtümern und Fürstentümern, darunter etliche Kleinststaaten, das gegen Ende des 16. Jahrhunderts den Zusatz "Deutscher Nation" erhielt, weil die Mehrheit der Bevölkerung Dialekte sprach, die aus dem West-Germanischen erwachsen waren. Deutsch war, wer "deutsch" sprach - wenn auch ein friesischer und ein bayerischer Bauer einander damals nicht verstehen konnten. Obwohl der Dreißigjährige Krieg viele deutsche Lande zu Wüsteneien gemacht hatte, als er 1648 endlich beendet wurde, sahen Könige und Fürsten keinen Grund, einander nicht auch in Zukunft eifrig zu bekämpfen.

Auftritt: Der deutsche Dichter und Denker. Man musste im 17. und 18. Jahrhundert kein Nationalist sein, um zu erkennen, dass das feudalistische "Heilige" Gebilde "Deutscher Nation" politisch ein Desaster war - und dass die Untertanen dagegen wenig tun konnten. Hölderlin war nicht der einzige Intellektuelle, der sich und seinesgleichen als "tatenarm und gedankenvoll" beschrieb.

Aus diesem obwaltenden Gefühl der Ohnmacht zieht Dieter Borchmeyer zwei Schlüsse: Die im 18. Jahrhundert mit Macht aufkommende Frage nach dem Wesen des Deutschen fand widersprüchliche Antworten: Manche neigten dem Kosmopolitismus zu, sie wollten die Deutschen als Lehrer eines künftigen allseitigen Verständnisses im Namen des Weltfriedens sehen. Andere forderten, es müsse endlich einen echten Nationalstaat geben - wie wir solche von heute kennen samt allem Pipapo: mit soliden Grenzen, wirtschaftlichem Protektionismus, frühzeitig gelehrtem Patriotismus und Ausgrenzung alles Fremden.

Borchmeyers zweiter Schluss: Nach dem Sieg von Napoleons Truppen 1806 über die des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen hatten viele Deutsche fürs Erste genug vom Kosmopolitismus. Napoleon hatte bei Jena und Auerstedt gesiegt. Jetzt galt es, Widerstand zu leisten - mit eigenen Mitteln: Deutschland über alles. Immer wieder in seinem Buch zitiert Borchmeyer den deutschen Privatgelehrten und Publizisten Erich Kahler (auch wegen seiner jüdischen Abkunft musste Kahler 1933 emigrieren). Kahler habe den "merkwürdigen Umschlag des nationalen Minderwertigkeitskomplexes in das Gefühl der ,Auserwählung'" diagnostiziert. Erich Kahler ist nicht ganz unbekannt. Borchmeyer stellt ihn verdientermaßen neu ins Rampenlicht. Kahlers These leuchtet ein: Viele von eigenen Gnaden "Auserwählte" geben wenig auf das eigene Leben, auf das anderer dann eben auch nicht.

Die Franzosen betonen immer auf der Schlusssilbe, schrieb Wagner. Verraten sie damit ihre Sprache?

Nach Borchmeyers großartiger Einleitung folgen 900 Seiten Text. Sehr schnell wird klar: Es geht hier nicht um die versprochene "Suche einer Nation nach sich selbst". Nein, wir haben es mit Zitaten von bedeutenden Literaten, Philosophen, Publizisten zu tun - also mit dem üblichen Gipfelgehupfe, von dem sozial interessierte Historiker in den 1960er-Jahren Abschied nahmen. Will man wissen, was die "Nation" dachte, müsste man soziologisch arbeiten. Borchmeyer zitiert zwei bis drei Dutzend Autoren mehrfach. Was sie schrieben, hat im Zweifelsfall mit dem Deutsch-Empfinden eines schlesischen Webers um 1844 oder dem einer Bäuerin um 1914 nicht das Geringste zu tun. Es fällt denn auch auf, dass Borchmeyer sich für die misslungene deutsche Revolution von 1848 wenig interessiert: Die meisten Redner, die sich damals in der Frankfurter Paulskirche zur deutschen Zukunft äußerten, konnten ihre politischen Ideen nicht durchsetzen, obwohl etliche von ihnen literarisch bewandert waren. Rechtfertigt das, sie auszulassen, wenn von "der Suche einer Nation nach sich selbst" die Rede ist?

Das Verhältnis von Deutschtum, Musik und Literatur

Umso mehr kümmert Borchmeyer sich um das deutsch-jüdische Verhältnis: Ausführlich referiert er, wie gebildete Juden seit dem 18. Jahrhundert sich in der deutschen Nicht-Staatlichkeit wiederfanden, wie Deutsche sich mit den heimatlosen Juden verglichen. Das deutsche Kleinstaatentum ermöglichte Juden und denen, die einfach nur Deutsche waren, sich miteinander zu vergleichen.

Borchmeyer hat noch eine zweite Präferenz. Er ist ein großer Musikkenner. Er liebt die Musik Richard Wagners. Deshalb wird dieser in fast jedem Kapitel zitiert, was die Lektüre der 900 Seiten nicht einfacher macht. Ein Kapitel heißt "Phänomenologie des Deutschen", das nächste "Nationale Identität", gefolgt von "Kritik des deutschen Charakters". Da gibt es viele Überschneidungen. Immer wieder werden Merksprüche aus dem Kanon der Autoren angeführt, die sich zum "Deutschen" geäußert haben: Hegel, Fichte, Herder, Goethe, Schiller, Heinrich von Kleist, Heine, Börne, Nietzsche, Thomas Mann, von Keyserling, Ernst Bloch, Martin Walser und andere.

Fichte wird von Borchmeyer gerettet: Obwohl dieser verkündete, die Juden müssten den Kopf andersherum aufsetzen, um als wahre Deutsche durchzugehen, trat er 1812 von seinem Rektorenposten an der Berliner Universität zurück, weil ein jüdischer Student vom Senat mies behandelt worden war. Borchmeyer rettet auch Martin Walsers Reputation: Er zitiert aus den Essays Walsers, in denen dieser seit den 1960er-Jahren geschrieben hatte, dass die Schuld der Deutschen am Ermorden der Juden untilgbar sei.

Wagner meinte, vor allem die deutsche Sprache sei für Operntexte wahrhaft geeignet

Die ersten hundert Seiten von Borchmeyers Buch sind summa summarum nötige Vorarbeiten. So wie Klavieradepten sich traditionell durch die Etüden von Czerny arbeiten müssen, bevor sie echte Musik spielen dürfen, müssen Borchmeyers Leser viele Seiten hinter sich bringen, bevor sie zum reinen Genuss kommen. Das Verhältnis von Deutschtum, Musik und Literatur hat mit der Frage "Was ist deutsch" im politischen Sinn nichts mehr zu tun. Aber es ist anregend.

Borchmeyer zitiert Richard Wagner, der sich über französische Operntexte mokierte: "Der Franzose betont nie anders als die Schlusssilbe", ungeachtet der eigentlichen Betonung französischer Wörter. Wagner zog daraus den Schluss, dass die Franzosen ihre eigene Sprache quasi hintergingen und deshalb als Librettisten ungeeignet wären. Das ist wahrhaft komisch. Es stimmt: Viele Franzosen enden ihre Sätze mit dem Akzent auf der letzten Silbe, was ihre Feststellungen oftmals wie eine Frage klingen lässt. Indes: Sie verschlucken die letzte Silbe bloß. Zum Beispiel: Das zweisilbige Verb für "folgen", auf Französisch "suivre", wird am Ende eines Satzes einsilbig gesprochen: "suivr". Wagner hat offenbar nicht verstanden, wie Franzosen reden, und meinte, vor allem die deutsche Sprache sei für Operntexte wahrhaft geeignet.

Ausführlich verbreitet Borchmeyer sich über das Verhältnis Thomas Manns zur Musik. Die Musikalität der deutschen Seele, so Mann, habe das deutsche Volk politisch teuer bezahlen müssen. Ein Land ohne Romane, sagte Thomas Mann, zeuge davon, dass es von Demokratie nichts verstehe. Das schrieb Mann, als er sich von seinen deutsch-nationalen Ideen abgewandt hatte. Borchmeyer führt köstliche Zitate an, er referiert ausgezeichnet. Gut wäre es seinem Buch bekommen, wenn es dreihundert Seiten kürzer wäre.

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