US-Museen verleihen Kunstwerke:Leer geplündert vom eigenen Chef

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Das Museum in Boston vermietet aus Finanznot seine wichtigsten Kunstwerke in alle Welt. Aber da die Empfänger teils auch kommerzielle Anbieter sind, muss es sich gehörig Schelte anhören. Und die Besucher stehen in leeren Sälen.

Von Peter Richter

Arbeiten in fast leeren Sälen, denn die Kunst ist auf Reisen. (im Bild: Philip Meredit vom Bostoner Museum arbeitet 2011 an dem japanischen Werk "Drache und Wolken" von Soga Shohaku). (Foto: REUTERS)

Fünf Gemälde von Cézanne - Porträts, Landschaft und Stillleben -, sechs Manets, Renoirs "Tanz im Bougival", Monets "La Japonaise", van Goghs Porträt des Postboten Roulin sowie das von dessen Frau, genannt "La Berceuse": Das sind Bilder, die man im Museum of Fine Arts in Boston zurzeit leider nicht zu sehen bekommt. Das sind aber längst noch nicht alle Bilder, die man dort im Moment nicht zu sehen bekommt, obwohl sie dem Museum gehören; es sind nur die berühmtesten. Die wichtigsten Stücke sind in bemerkenswerter Ballung alle zugleich für Ausstellungen in aller Welt verliehen. Was man dafür in Boston zurzeit zu sehen bekommt, ist eine Schau mit Bildern des Modefotografen Mario Testino.

Wenn Kulturpessimisten Albträume haben, dann dürfte es darin aussehen wie diesen Winter in diesem Museum. Dabei ist die Verärgerung über das Fehlen angestammter Meisterwerke phänomenologisch noch gar nicht mal so weit von dem Kalkül hinter einer Ausstellung mit Fotos von Models und Prominenten entfernt: Museumsbesucher sehen einfach gerne Dinge, die sie kennen und die als schön und / oder berühmt kanonisiert sind. Das heißt aber noch nicht, dass Zeitschriftenfotografie, obwohl ebenfalls der unbedingten Ästhetisierung des Hier und Jetzt verpflichtet, dem Publikum so ohne Weiteres als zeitgenössischer Ersatz für die verborgten Impressionisten untergejubelt werden kann. Vor allem dann nicht, wenn diese Impressionisten nicht nur verborgt, sondern regelrecht vermietet worden sind.

Die Lokalzeitung Boston Globe hat jetzt den Vorwurf erhoben, dass nur ein Teil der fehlenden Kunstwerke im üblichen Leihverkehr in Sonderausstellungen an andere Museen gewandert ist. In einer Art intermusealer Kreditwirtschaft soll so sichergestellt werden, später wiederum für eigene Ausstellungen Leihgaben zu bekommen. Nicht weniger als 26 Kunstwerke, darunter der berühmte Renoir und einer der van Goghs, sind allerdings einer italienischen Firma überlassen worden, die unter dem Namen "Linea d'Ombra" Blockbuster-Ausstellungen organisiert und kommerziell vermarktet. Im Gegenzug ist eine Leihgebühr gezahlt worden, die vom Museum zur Finanzierung seiner laufenden Kosten eingestrichen wurde. Über die genaue Höhe macht das Museum unter Verweis auf vertragliche Verschwiegenheitsklauseln keine Angaben gegenüber der Presse.

In der amerikanischen Terminologie gesprochen ist da ein Non-Profit-Unternehmen mit einem For-Profit-Unternehmen ins Gemenge geraten. Das sorgt abgesehen von den üblichen konservatorischen Vorbehalten gegen das dauernde Verschicken gerade der kostbarsten Bilder für Bedenken museumsethischer Art, denn wo Kunstwerke vermietet werden, um Finanzlücken zu schließen, da ist es bis zum Bruch des letzten Tabus, dem Verkauf, theoretisch nur noch ein einziger Schritt.

Der Direktor des Bostoner Museums, Malcolm Rogers, hatte der Zeitung zuvor gesagt, dass die Finanzlage seines Hauses angespannt sei. Der Versuch, mithilfe der Sammlung Geldquellen zu erschließen, sei die Alternative zur Entlassung von Personal und zur Einschränkung der wissenschaftlichen Arbeit. Seit der Schelte im Boston Globe ist Rogers für andere Medien leider nicht mehr zu sprechen. Seine Pressestelle erinnert lediglich daran, dass Leihgebühren international gang und gäbe sind.

Aber wenn man sich in Amerika mit anderen Museumsleitern unterhält, dann scheint die Lage in Boston eher auf ein grundsätzliches und strukturelles Problem hinzudeuten. Derek Gillman, Direktor der Barnes Foundation in Philadelphia, sagte etwa, dass derartige Praktiken aus Boston "schon seit den Achtzigerjahren" bekannt seien - also lange vor Rogers Amtsantritt. Andere Museen hielten es ähnlich. Gillman und Rogers sind beide Briten, die aus der öffentlich finanzierten Museumskultur Europas in eine Welt gewechselt sind, in der die Museen von privaten Stiftungen und Zuwendungen abhängen und sich damit praktisch in einem permanenten Überlebenskampf befinden. Das eigentliche Problem, sagt Gillman, sei allerdings die Intransparenz im internationalen Leihgeschäft.

Alle nehmen und bezahlen letztlich Geld, auch die staatlich geförderten Museen in der alten Welt - manche mehr und manche weniger, je nach Angebot, Status, Reputation und unter den unterschiedlichsten Rubrizierungen. Beim Leihverkehr mit China seien es zum Beispiel die Kosten für die überdurchschnittlich zahlreich mitreisenden Kustoden, die Ausstellungen empfindlich verteuern können. Wenn den Chinesen aber keiner verübeln möchte, dass sie mit ihren Kunstschätzen auch möglichst vielen ihrer Leute die Gelegenheit geben, um die Welt zu fliegen, dann erscheint das, was Malcolm Rogers in Boston betreibt - das Verschicken von Werken, um die Kassen ein bisschen aufzufüllen -, letztlich auch nur noch als eine Geschäftspraktik unter vielen im globalisierten Kunstversandgewerbe.

In den Schriften des Wiener Philosophen Robert Pfaller findet sich der charmante Gedanke, wie es denn wäre, wenn die Kunst in den Museen nicht dauernd aktiviert werden müsste, um Besucher anzulocken, wenn sie einfach für sich sein dürfte - in Sicherheit ruhen, zur Not auch völlig unbehelligt von Betrachtern, sozusagen wie das Gold im Bankschließfach. Aber das setzt ganz die feudale Tradition europäischer Museen voraus, die sich in den staatlich gestützten Häusern zwar im Prinzip fortsetzt. In der Praxis schicken allerdings auch diese dauernd ihre Sammlungen um die Welt, um dort das Publikum zu generieren, dass später im Gegenzug zur Sammlung reisen soll. Das klingt nach einem etwas sehr dialektischen Trick, aber jemand wie der frühere Generaldirektor der Dresdner Kunstsammlungen, Martin Roth, hat Kritikern oft und gerne anhand der Fremdenverkehrsdaten vorgerechnet, dass er durchaus funktioniert.

In Boston passiert nichts anderes, nur der Druck, aus dem so etwas geschieht, ist existenzieller. Mit Managervokabeln wie "Branding" wird man allerdings nicht unbedingt zur sympathischsten Figur in der Welt der Künste. Malcolm Rogers ist entsprechend umstritten. Ausstellungstourneen unter dem Titel "The MFA on tour" dienen nach eigenen Angaben des Hauses nicht nur dem Branding der Sammlung, sondern der Erzielung von Einnahmen für die laufende Arbeit. Wenn das am Ende allerdings dazu führt, dass in diesen Weihnachtsferien die Besucher von Boston durch von der Museumsleitung selbst leer geplünderte Säle wandern dürfen - dann ist ein Geschäftsmodell an einem Punkt angekommen, wo es sich als das erweist, was man auch als Schuss ins eigene Knie bezeichnet.

Das ist aber nur die eine Pointe an dieser Geschichte. Die andere spielt auf der anderen Seite der Welt, wo zurzeit in zwei Ausstellungen gleichzeitig Bilder aus Boston gezeigt werden: "Von Botticelli zu Matisse" in Verona. Und "Von Raffael zu Picasso" in Vicenza. Beide organisiert vom Kunsteventvermarkter "Linea d'Ombra". Letztere hatte nach anderthalb Monaten schon mehr als 100.000 Besucher. Während man in manchen Museen Italiens den Spinnen bei der Arbeit zuschauen kann.

© SZ vom 11.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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