Urban Explorer steigen in verlassene Gebäude ein:Fenster zur ungeschönten Vergangenheit

Die Welt ist bis in den letzten Winkel erforscht, doch es gibt noch Räume für moderne Abenteurer: Urban Explorer steigen in verfallene Gebäude ein - und stoßen dort mitunter auf absonderliche Kuriositäten.

Felix Stephan

Überall auf der Welt gibt es derzeit junge Menschen, die in verlassene Gebäude einsteigen. Sie wollen sich dort einfach nur aufhalten. Das ist in den meisten Fällen illegal, obwohl sie meist nichts zerstören. Sie machen Fotos, schauen sich um, manchmal bleiben sie über Nacht. Das ist alles. Nur: Warum machen sie das? Es lässt sich nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich bei Urban Exploration um eine Art Sport, um Hobbyforschung, Achitekturexpeditionen oder Action-Kunst handelt.

Alte Ziegelei in Oberföhring, 2011

Schon die Graffiti-Malereien weisen darauf hin, dass hier mehr ist als ein verfallenes Gebäude. Solche Industrieruinen wie diese ehemalige Ziegelei in München-Oberföhring sind heute auch Kulissen popkultureller Produktion.

(Foto: Robert Haas)

Die Karrieren vieler Urban Explorer beginnen wie die von Tim Edensor. Als der Geograf der Universität Manchester noch ein kleiner Junge war, hatte er ein Erlebnis, von dem er Jahrzehnte später in seinem Buch "Industrial Ruins" erzählt: In der Nähe des schottischen Cottages seiner Großeltern, bei denen er Jahr für Jahr seine Sommerferien verbrachte, stand ein verlassenes Schloss. Mit seinen Geschwistern kletterte er regelmäßig über den Stacheldraht in den Garten und trieb sich dort herum. Jeden Abend wurden sie schließlich von einer alten Frau verjagt, die im Gartenhaus wohnte und regelmäßig in einem uralten Auto über das Gelände patrouillierte, begleitet von einer "außerordentlich boshaften Gans" und einem Hund.

"Nachdem ich jahrelang den Garten ausgekundschaftet hatte, entdeckte ich ein offenes Fenster im Erdgeschoss, durch das man sich in das Haus schieben konnte. Natürlich eine Einladung, der ich unmöglich widerstehen konnte. In den düsteren, von Bäumen überwachsenen Räumen bot sich mir ein ungewöhnlicher Anblick. Am merkwürdigsten war eine Vitrine mit einem ausgestopften zweiköpfigen Kalb darin, vielleicht ein Schatz aus einer Welt, die sich nach Absonderlichkeit und Kuriositäten sehnte."

Verlassene Gebäude bieten einen ehrlicheren Blick in die Vergangenheit als Museen, denn was man dort zu sehen bekommt, ist nicht kuratiert. Die Dinge sind nicht nach unseren Maßstäben zurechtgerückt und aufgearbeitet. Wenn man in einem Gebäude steht, das seit 30 Jahren nicht betreten wurde, steht nichts zwischen dem Betrachter und der Vergangenheit. Die Dinge in diesen Gebäuden verweisen nicht auf die Vergangenheit, sie sind selbst das Vergangene.

Schon die Namen solcher Orte stammen aus einer anderen, fernen Zeit, einer Zeit, in der die Leute noch Pepita-Hüte trugen, in der das Wirtschaftswunder brummte und Deutschland geteilt war: Drahtwalzwerk Ruhrort, Kokerei Prosper, U-Bootsbunker Elbe II, Raketenbasis Pydna.

Flucht vor überfunktionaler Stadt

Der Londoner Geograf und Urban Explorer Bradley L. Garrett hat die These aufgestellt, dass Urban Exploring eine Reaktion auf die "zunehmende Überwachung und Kontrolle des öffentlichen Raums" ist. In London, einer Stadt mit geschätzten zehn Millionen Überwachungskameras, mag das Gefühl der Kontrolle präsenter sein als in Deutschland, aber das Prinzip wirkt auch hier.

Öffentliche Plätze sind heute hochfunktionalisiert. Ganz gleich, an welchem Ort in der Stadt man sich aufhält, man tut in fast jedem Falle das, wofür der Platz einst entworfen wurde. Eine funktionierende Stadt läuft wie eine gutgeölte Maschine, das hat 1927 schon Walther Ruttmann in seinem Spielfilm "Die Sinfonie der Großstadt" gezeigt. Die Menschen gestalten ihr Umfeld heute weniger, als dass sie sich in standardisierte Abläufe integrieren lassen.

Für den Einzelnen ist das im Grunde angenehm, schließlich wird die Stadt auf seine Bedürfnisse hin entworfen: Sie soll unsere täglichen Abläufe erleichtern, Staus und Kollisionen vermeiden und uns dabei das Gefühl geben, gut aufgehoben zu sein. Tim Edensor spricht vom "smooth space". Doch genau diesem "sanften Raum" versuchen Urban Explorer zu entfliehen, weil sie das Gefühl haben, dass er ihnen die Souveränität nimmt und damit etwas, das wir für eine Grundbedingung des Menschseins halten.

Vor nicht allzu langer Zeit gab es wenigstens noch die Möglichkeit, sich dieser Kontrolle zu entziehen, indem man in die Welt hinausfuhr. Die Ränder unserer Karten hatten noch Fransen, es gab Orte, die noch nicht vermessen, nicht kartographiert, nicht interpretiert waren. Irgendwo gab es immer noch einen unbestiegenen Berg.

Weiße Flecken auf Großstadt-Karten

Das ist vorbei, die Welt ist im Kasten. Man muss schon lange suchen, um einen Flecken Erde zu finden, der noch nicht in einem Reiseführer beschrieben wurde. Solche Orte sind verlassene Gebäude. Sie sind vergessen, off the map. Fabriken, Sanatorien, Kraftwerke, Kasernen.

Pumpenhaus in Pasing, 2011

Ein ehrlicher Blick in die Vergangenheit: Das Bild zeigt ein altes Wasserpumpenhaus in München-Pasing.

(Foto: Robert Haas)

Wenn wir die Ränder unserer Weltkarten nicht mehr erforschen können, fangen wir bei den weißen Flecken noch einmal von vorn an. "Ich fürchte fast, daß wir größre Augen haben als Magen; und daß unsre Neugierde weiter gehen möchte als unsre Kräfte", schrieb der französische Philosoph Michel de Montaigne 1580 in seinem Kolonialismus-Essay "Von den Menschenfressern": "Wir haschen nach allem, ergreifen aber nur Wind."

Vielleicht geht es auch gar nicht in erster Linie um die objektiven Weltkarten, sondern um unsere innere Geographie. Wenn man sich mit Urban Exploration beschäftigt, stößt man auf den Begriff der "Psychogeografie". Damit ist der Bereich unserer gefühlten Weltkarten gemeint und der Effekt, den unser Umfeld auf unsere Emotionen und Wahrnehmungen hat. Urban Explorer, schreibt Garrett, suchen Erfahrungen außerhalb unserer Vorstellungen von Repräsentation und Erklärung. Dass das nach derzeitiger Gesetzeslage verboten ist, kann man leicht zu einem kulturpessimistischen Symbol überhöhen, wenn man es darauf anlegt.

Urban Explorer fühlen sich von den letzten Orten angezogen, die nicht als Spektakel entworfen wurden, wie Guy Debord es ausdrückt, auf den sich viele Urban-Exploration-Theoretiker berufen - Orte, an denen ein zweiköpfiges Kalb noch in einer Vitrine stehen kann, ohne Teil eines Gewinnspiels zu sein oder eine Installation von Damien Hirst.

Übervölkerung des Unerforschten

Dieselbe Sehnsucht treibt zwar vielleicht auch Free-Skier oder Flachlandwanderer an, aber diese Bereiche der Freizeitkultur sind längst industrialisiert: Es gibt Ernährungsratgeber, Lifestyle-Guides und Modekollektionen; es gibt spezielle Salben, Drinks und touristische Komplettpakete, abgestimmt auf die Bedürfnisse der unterschiedlichen Altersgruppen.

Die jeweiligen Lebensgefühle sind popkulturell vollständig ausgedeutet. In den verlassenen Gebäuden, in denen sich Urban Explorer herumtreiben, ist davon nichts zu spüren, denn sie stehen meist genau deshalb leer, weil sie irgendwann unprofitabel geworden sind.

Als Kulisse für Fotoshootings spielen Industrieruinen schon lange eine Rolle: Bereits in den achtziger Jahren diente die grell morbide Ästhetik als Hintergrund für Bandfotos, kombiniert mit löchrigen Jeans und massigen Motorrädern. In den Neunzigern assoziierte man diese Bildsprache mit Boygroups, die sich von den Ruinen einen Anstrich von Authentizität versprachen. Heute versuchen vor allem Metal- und Gothic-Bands dieses Setting zu nutzen.

Man platziert Ballett-Tänzerinnen für Musikvideos in den Ruinen und lässt so menschliche Eleganz auf industrielle Kälte treffen. Diese fortschreitende Bildproduktion wird die Reinheit der Urban-Exploration-Kultur mittelfristig ausradieren. "Wenn man anfängt, die Orte zu konservieren oder zu interpretieren, überschreitet man eine Linie", sagt die britische Kulturgeografin Caitlin DeSilvey.

"Nimm nichts mit außer Fotos"

Ob Post-Punk, Hip-Hop oder Minimal Techno - alle Kulturformen des industriellen Zeitalters wurden auf ähnliche Weise geboren wie Urban Exploration, als Flucht vor dem Mainstream, als antiautoritäre Selbstbehauptungsgeste von Jugendlichen, die mit der Unterhaltungswelt, die ihnen vorgesetzt wurde, nichts anfangen konnten.

Und so, wie sich diese Pop-Kulturen in unzählige Sub-Subformen verästelt haben, gibt es auch bei der Urban Exploration zahlreiche Variationen, die sich Placehacking oder Geocaching nennen und das Spiel mit Gebäuden und Gebieten abseits der legitimen Öffentlichkeit für sich ausdeuten und unterschiedlichen Regeln unterwerfen.

Es ist, wie erwähnt, häufig illegal und manchmal sogar gefährlich, in diese baufälligen Gebäude einzudringen, deshalb soll das hier niemandem anempfohlen werden. Außerdem leiden die Gebäude meist nicht nur metaphorisch, wenn Menschen durch die verwitterten Gemäuer laufen. Deshalb fürchten sich die Urban Explorer zu Recht vor einer Übervölkerung. Sie befürchten, dass zu viele Leute ihre kostbaren Ruinen bestürmen und den zentralen Kodex nicht befolgen: "Nimm nichts mit außer Fotos. Lass nichts zurück außer Fußabdrücke."

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