Ungewöhnliches Mädchen:Wienerwalzer und wilde Brandung

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Der Held dieses Buches erlebt, wie ein Mädchen die Suche nach dem Vater beginnt.

Von Siggi Seuss

Meer. Strand. Dünen. Sonne. Tanzende Papierdrachen am Wölkchenhimmel. Irgendwie kommt einem das Milieu als Stoff, aus dem Kinderbücher sind, nicht ganz unbekannt vor. Gerade niederländische Autoren verstehen es wunderbar, die Landschaften vor und hinter den Dünen in abenteuerliche Feriengeschichten zu packen. Man denke an Guus Kuijers Polleke-Erzählungen. Darum scheint der neue Kinderroman der Niederländerin Anna Woltz über Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess, schwarzweiß illustriert von Regina Kehn, nicht aus der Reihe zu tanzen.

Der zehnjährige Samuel - ein kluger Grübler - verbringt mit Eltern und älterem Bruder eine Ferienwoche im Mai auf der westfriesischen Insel Texel. Nur eitel Freud und Sonnenschein? Natürlich nicht. Samuel erzählt in der Unschuld seiner frühen Jahre, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Da er über vieles nachdenkt, öffnen sich für die Leser zwischen wilder Brandung, geheimnisvollen Sandkuhlen, munteren Wölkchenspielen und siebenfarbigen Tulpenfeldern ungeahnte Einblicke in die Kümmernisse eines jungen Mannes, kurz bevor ihn die Pubertät in die Mangel nimmt. Die Einsamkeit des letzten Dinosauriers berührt Samuel genauso wie seine Vermutung, man könne das Leid, das durch plötzliche Krankheit oder gar den Tod naher Menschen entsteht, vorbeugend durch Distanz zu seinen Nächsten mindern.

Just in den Feriengrübeleien über den Sinn des Lebens trifft der für sein Alter etwas klein geratene Samuel auf die nur ein Jahr ältere, aber dafür um einen Kopf größere selbstbewusste Inselbewohnerin Tess. Sie animiert ihn plötzlich dazu, mit ihr mitten auf der Straße einen Wiener Walzer zu tanzen. Das ist der Beginn einer seltsamen Woche, in der sich Samuels Skeptizismus immer wieder an der Wirklichkeit reibt. Die eigentlich dramatische Geschichte in der Geschichte ist nämlich die, dass sich Tess hinter dem Rücken der alleinerziehenden Mutter entschlossen hat, ihren Vater kennenzulernen, der von der Existenz seiner Tochter nichts weiß. Tess Mutter hatte sich vor der Geburt des Kindes von ihm getrennt und verweigert der Tochter jegliche Auskunft. Deshalb tüftelte sich das Mädchen, nachdem sie zufällig seinen Namen erfahren und im Internet recherchiert hat, einen verwegenen Plan aus. Sie will den Vater auf die Insel locken, um ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Und so wird Samuel zu Tess Erfüllungsgehilfen und lernt das Leben von ganz neuen Seiten kennen.

Anna Woltz, die mit Übersetzerin Andrea Kluitmann eine empathische Gefährtin gefunden hat, erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Ferienfreundschaft mit großer Liebe zu ihren Figuren und mit ebenso großer Aufmerksamkeit für die nur im ersten Augenschein geringfügigen Ereignisse im Alltag der jungen Lebenserforscher. Die Autorin hält im Fluss einer dialogreichen, erfrischend lebendigen Erzählung eine bewundernswerte Balance zwischen ernstem Hintergrund und dem Bemühen ihrer kleinen Helden, den Unwägbarkeiten des Lebens mit Neugierde, mit Staunen und mit mehr oder minder forschem Mut entgegenzutreten. Selbstironische Anflüge nicht ausgeschlossen. Und siehe da: Plötzlich erscheint Samuels und Tess gemeinsame Ferienwoche gar nicht mehr so wunderbar seltsam, sondern eher wunderbar wirklich. (ab 10 Jahre)

Anna Woltz : Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Mit Illustrationen von Regina Kehn. Carlsen 2015. 176 Seiten, 10,99 Euro.

© SZ vom 29.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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