Ungarn:Das Stacheldraht-Recycling

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Zäune sind unser Schicksal, schreibt die Autorin Zsófia Bán - von der Befreiung der Konzentrationslager über den Eisernen Vorhang bis zur fremdenfeindlichen Abgrenzung heute.

Von Zsófia Bán

Ungefähr vor zwanzig Jahren bin ich mit meiner Partnerin durch die USA gefahren. Es war ein sehr heißer Tag, und wir bestellten ein Bier an einer Straßenbar in West Virginia. Die Bedienung, die schon etwas in die Jahre gekommen war, sah uns über ihren Brillenrand hinweg an und sagte mit leichtem Tadel und diesem herrlichen Südstaatenakzent in der Stimme: "Das hier ist Dry County, Mädels. Hier gibt's kein Bier."

Uns blieb der Mund offen stehen. Wir fühlten uns, als wären wir ans Ende der Welt gefahren, bloß um festzustellen, dass sie dort keinen Alkohol ausschenken. Es war, als hätten wir den Höhepunkt unseres Abenteuers erreicht und würden nun für unsere Hybris bestraft.

Nächstes Jahr werden wir der längst verlorenen Revolution des Jahres 1956 gedenken

Dennoch, als gute, aufgeschlossene Christin beschloss sie, sich weiter um uns zu kümmern, und fragte: "Woher kommt ihr Mädels denn?" Warum die Dinge verkomplizieren? Lächelnd erzählten wir ihr: "Wir sind aus Europa." Sie schien völlig einverstanden zu sein mit dieser Antwort, doch als sie zurückkam mit unserer Bestellung, sagte sie: "Wisst ihr, Europa ist so groß wie Texas. Wo genau kommt ihr denn her?" Der unerwartete Vergleich Europas mit der ungeheuren texanischen Weite rückte die Sache in eine andere Perspektive. Also mussten wir uns wohl oder übel enttarnen und gestanden: "Wir sind aus Ungarn." "Oh", sagte sie mit einem strahlenden Lächeln, "das ist ja mal was!". Befriedigt mit dieser Menge neuer Informationen, zog sie sich in die Küche zurück, um uns unsere Maisbällchen zu bringen. Wir dachten eine Weile darüber nach, um zu erkennen, dass, ja, dass das schon was war. Es war wirklich was, dass wir im amerikanischen Süden saßen, auf der Straße, genau wie wir es in jenem Buch von Kerouac gelesen hatten, als wir noch Studenten und die Grenzen noch geschlossen waren. Und es war was, dass nur vier Jahre später, 1989, der Stacheldrahtzaun, der uns damals vom Rest Europas trennte, durchschnitten worden war. Wir hatten allmählich gelernt, wir zu sagen, von uns selbst als Europäern zu denken und ein anderes Bild zu sehen, wenn wir in den Spiegel schauten. Schon einmal vorher waren wir den Stacheldraht losgeworden, als unsere überlebenden Mitbewohner, Juden und Roma, aus den Nazi-Konzentrationslagern in ganz Europa befreit wurden. Auch das war Europa, wie es das unvollendete und unverdaute Projekt der Aufklärung emporwürgte. Im Nu war der Stacheldraht wieder aufgezogen, dieses Mal im Namen des Kommunismus und einmal mehr, um uns vor ihnen zu beschützen.

Jetzt, nur 25 Jahre später, liegt der Stacheldraht schon bereit und wird an Ungarns Grenzen mit Serbien wiederverwertet werden, um - Sie erraten es - uns (Ungarn und Europäer) vor ihnen zu schützen. Sie, das sind die Migranten, die "Wirtschaftseinwanderer", die Flüchtlinge, die den Kontinent überfluten. Um "unsere" europäischen Werte zu schützen, sagt der ungarische Premierminister, um die "europäische Kultur und die Christenheit" zu schützen. Seine Regierung hat das ganze Land mit Plakatwänden überzogen, die sie (in Ungarisch) davor warnen, "unsere" Arbeitsplätze wegzunehmen und "unsere" Gesetze zu respektieren. Währenddessen haben mehr als eine halbe Million Menschen, die meisten von ihnen jung, Ungarn verlassen, um Arbeit und ein Leben in der Europäischen Union oder anderswo zu suchen, mehr Menschen als während und nach 1956. Nächstes Jahr, am 60. Jahrestag dieser längst verlorenen Revolution, werden wir feierlich dessen gedenken, was wir von unserer Geschichte gelernt haben - mit einem vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Stacheldrahtzaun. Weshalb sollte man den guten Draht auch wegwerfen, wenn man ihn doch immer wieder brauchen kann. Oder?

Zsófia Bán, geboren 1957 in Rio de Janeiro, lebt seit 1969 in Budapest. Sie lehrt dort Amerikanistik , schreibt Essays und Prosa. Auf Deutsch erschien zuletzt "Als nur die Tiere lebten" (2014) im Suhrkamp Verlag. Übersetzung: Eva Herzog.

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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