Tschernobyl: Jahrestag:"Denk' an die schönen Seiten"

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Nach 23 Jahren verblasst im Westen die Erinnerung an die Atom-Katastrophe von Tschernobyl. Ein Film zeigt, wie die Ukrainer, die wegen des GAUs ihre Heimat verloren, bis heute leiden. Mit Videos.

Matthias Kolb

Ein Junge spielt in einem Garten, er läuft über die grüne Wiese, hält Gänseblümchen in die Kamera und steckt sie in den Mund. Es ist ein alter Super-8-Film aus den Achtzigern und der Junge ist mittlerweile erwachsen. Er habe als Kind immer Gänseblümchen gegessen, obwohl sie ihm gar nicht so sehr geschmeckt hätten, sagt die Stimme aus dem Off.

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25 Jahre nach dem Atomunfall leiden Hunderttausende an den Folgen. Das Grauen ist zur Attraktion geworden: Touristen besuchen die Sperrzone als Tagesausflug.

Matthias Kolb

Bis seine Mutter ihm plötzlich verboten hat, die Blumen in den Mund zu stecken. Das war kurz nach dem 26. April 1986. Irgendwo im Osten, in der Sowjetunion in Tschernobyl, war ein Atomkraftwerk explodiert. Eine Fläche von fast 150.000 Quadratkilometern wurde radioaktiv verstrahlt. Eine Fläche, auf der damals mehr als sieben Millionen Menschen lebten.

"Die Erinnerung an meine besorgte Mutter und die verbotenen Gänseblümchen", sagt der Filmemacher Sebastian Heinzel, "ist mir bis heute sehr präsent." Heinzel, 1979 geboren, wuchs in einem hessischen Dorf auf; fast jeder Westdeutsche in seinem Alter verbindet etwas mit Tschernobyl: Der Sandkasten war auf einmal Sperrzone, manche Eltern lagerten säckeweise Milchpulver im Keller - oder Pilzesammeln war fortan verboten.

Die Frage, wie sowjetische Kinder im gleichen Alter diese Katastrophe erlebt und welche Erinnerungen sie haben, beschäftigte ihn seit langem. So fuhr Heinzel in die ukrainische Hauptstadt Kiew, suchte nach Überlebenden der Katastrophe - und traf Olga, die Hauptdarstellerin seines Dokumentarfilms "Lost paradise".

Das verlorene Paradies ist in diesem Falle Pripjat, jene Schlafstadt in Sichtweite des Atomkraftwerks, in der knapp 50.000 Menschen lebten und einst hoffnungsfroh in die Zukunft blickten. Das Durchschnittsalter lag bei 28 Jahren, wegen eines Babybooms mussten schon neue Kindergärten und Schulen gebaut werden. Hier wuchs Olga auf, bis sie mit ihrer Familie evakuiert und nach Kiew gebracht wurde - zunächst hieß es, nur für ein paar Wochen. Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten wurden Jahre. Heinzel zeigt Fotos aus Olgas Kindheit und Ausschnitte aus Propagandafilmen - ein gelungener Gegensatz zu seinen eigenen Erinnerungen.

Verstört

"Dieses Haus ist ein tschernobilski dom: Hier wohnten nur Leute aus Pripjat und Umgebung", sagt Olga und blickt auf die umstehenden Hochhäuser. Viele Verwandte und Bekannte hätten Angst gehabt und jeglichen Kontakt vermieden, um sich nicht selbst zu identifizieren. Bis heute, berichtet Olga in dem eindrucksvollen Film, reagierten die Menschen verstört, wenn sie hören, wo Olga aufgewachsen ist.

Vielleicht hat die Journalistin auch deshalb einen Brasilianer geheiratet, mit dem sie nun in Kiew lebt - weil dieser sie so akzeptiert und liebt, wie sie ist. Kinder haben sie noch nicht, die Furcht vor möglichen Krankheiten lässt sich nicht verdrängen, Olga selbst hat Probleme mit der Schilddrüse.

Ihr Vater ist bereits gestorben; er war einer der "Liquidatoren", die auf dem Friedhof für verstrahlte Maschinen als Schweißer arbeiteten. Die Katastrophe von Tschernobyl beschäftigt nach wie vor Millionen Menschen jeden Tag, doch in der Ukraine und Russland wird sie nur am heutigen Jahrestag öffentlich thematisiert. Die Liquidatoren, die noch leben, bekommen eine karge Rente und dürfen jährlich kostenlos zur Kur - ansonsten wird ihre Leistung totgeschwiegen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie Olga und Ivan die alte Wohnung aufsuchen.

Das eigentliche Thema des Films "Lost paradise", der bisher auf Festivals in Sofia und Kassel gezeigt wurde, ist Heimat. Das Gefühl von Geborgenheit, jene Erinnerungen an die Kindheit, als das Leben überschaubar schien, und jene Orte, an die man als Erwachsener zurückkehrt, um die Eltern zu besuchen. "Denk an die schönen Seiten, lass' die schlechten Seiten nicht an dich heran", rät der Brasilianer Ivan seiner Ehefrau.

Olga hatte schon lange überlegt, an den Ort den Kindheit zurückzukehren, aber sie ist hin- und her gerissen: "Ich will es sehen, aber zugleich habe ich Angst." Schließlich fahren die beiden nach Pripjat. Touristen können für etwa 150 Dollar von Kiew aus eine Tagestour machen.

Während die Ausländer mit dem Messgerät herumalbern und Erinnerungsfotos machen, um ihren Mut zu dokumentieren, suchen Olga und Ivan die alte Wohnung auf. Die Natur wächst ungehindert, überall wuchert es, in den Büschen liegen Gegenstände, manche Gebäude sind wegen des Gestrüpps kaum zu erreichen. "Straße der Helden von Stalingrad, Haus 17. Wohnung 1 im Erdgeschoss", die Adresse hat Olga wohl nie vergessen. Nun steht sie vor dem alten Haus. Ihre Heimat hat sich nicht verändert, alles ist konserviert, wie in einem radioaktiven Museum.

In der Wohnung entdeckt sie den Keller, den ihr Vater für die Pilze angelegt hat. Ein Einweckglas ist immer noch da, ansonsten finden sich kaum Erinnerungsstücke, denn Möbel wurden weggeschafft und unzählige Haus- und Nutztiere gekeult. Experten schätzen, dass das Gebiet um Pripjat noch mehr als 24.000 Jahre verseucht sein wird - nirgends wird das mit der Atomenergie verbundene Risiko deutlicher als an jenem Ort, der nur zwei Flugstunden von München entfernt ist.

Olga hat ihre Fahrt nach Pripjat nicht bereut, das sieht man in ihren Augen. Ihre Mutter hat es rundum abgelehnt, wieder dorthin zu fahren. "Ich hatte nie den Wunsch. Wir haben die Papiere abgeholt, Dokumente unterschrieben und das war's. Wozu soll ich zurückkehren?", sagt sie - und diese Meinung gilt als typisch für die Generation. Zu viele Erinnerungen, so scheint es, hängt an dem Ort, Zukunftsträume und Lebensentwürfe - allesamt explodiert um 1:23 Uhr am 26. April 1986.

Für Sebastian Heinzel ist das Thema Tschernobyl aktueller denn je: "In Deutschland wird über den Ausstieg aus dem Ausstieg diskutiert, und weltweit sollen überall neue Reaktoren gebaut werden." Er hält es für bedenklich, dass die Atomenergie in Zeiten des Klimawandels als "Retter in der Not" dargestellt werde. Vor nicht allzu langer Zeit druckte das Deutsche Atomforum Broschüren mit dem Titel "Deutschlands ungeliebte Klimaschützer", um für die Kernenergie zu werben. Die Risiken würden verharmlost, findet Heinzel.

Filme wie "Lost Paradise" oder die von Swetlana Alexijewitsch gesammelten Porträts der Überlebenden im Buch "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft", zeigen, dass Tschernobyl alle angeht - und nicht nur die früheren Einwohner von Pripjat.

Mehr Informationen über Sebastian Heinzels Dokumentarfilm "Lost Paradise": http://lostparadise-themovie.com

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