Tiergeschichte:Gib Umarmung

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Zuerst lebt der kleine Affe nur als Versuchstier in einer Familie. Doch dann wird aus dem Schimpansen ein echter Bruder für den 13-jährigen Ben. Kenneth Oppel erzählt die Geschichte vom "Affenbruder".

Von Verena Hoenig

Das Schimpansenbaby ist hässlich. Seine Haut schrumpelig, die Nase platt gedrückt, dazu lange dünne Arme. Wenn es nicht schläft, will es getragen werden. Der 13-jährige Ben ist sauer auf das neugeborene Fellbündel und weigert sich, es anzufassen. Seinetwegen musste er seine Freunde zurücklassen und einen Umzug hinnehmen: Bens Eltern sind Verhaltenspsychologen und leiten das erste Forschungsprojekt der Welt, das Linguistik und Primatologie zusammenführt. Zan, so der Name des Schimpansen, soll in der Familie wie ein menschliches Kind großgezogen werden und dabei die Gebärdensprache lernen. Es ist der erste Versuch von Menschen, auf diese Weise mit einer anderen Spezies zu kommunizieren und dadurch Einblick in deren Seelenleben zu erhalten. Bald schon gibt Ben seinen Widerstand auf.

Zusammen mit ihm nimmt der Leser zwei Jahre lang an der Entwicklung des Schimpansen teil. Ist dabei, als Zan seinen ersten Satz signalisiert ("Gib Umarmung!") und erlebt, wie glücklich er beim Beobachten der Vögel im Garten ist oder beim Tellerspülen. Er macht gerne Krach, ist in der Lage, sich zu entschuldigen, zum Beispiel wenn er jemanden gebissen hat, und legt jeden Abend seine Lieblingsspielzeuge um sich herum auf den Boden.

Als Ben Liebeskummer hat, versucht Zan ihn aufzuheitern. Kurz, Zan ist ein richtiges Familienmitglied geworden. Vor allem für Ben, der in ihm einen Bruder sieht, den es zu beschützen gilt. Damit stellt er sich gegen seinen Vater, der, ganz kühler Wissenschaftler, Zan vor allem als Versuchstier betrachtet, das Unterlagen und Daten produzieren soll. Ben bereitet diese Einstellung zunehmend Unbehagen, ja, er beginnt, seinen Vater zu verabscheuen.

Obwohl Zan inzwischen Drei-Wort-Sätze bildet, erfüllen diese nicht die Definition von Sprache im Sinne des Experiments. Er wird verkauft und muss in ein Schimpansengehege ziehen. Weil er sich dort zu "menschlich" verhält, hat er Schwierigkeiten, von der Herde akzeptiert zu werden. Nach Bens Auffassung haben seine Eltern Zan verraten; er geht auf die Barrikaden, die Situation eskaliert.

Der Roman spielt Anfang der 1970er Jahre in Kanada. Damals hat es tatsächlich Projekte wie das dargestellte gegeben. Einem Schimpansenkind namens Washoe brachte ein Forscherehepaar die Gebärdensprache bei und es beherrschte schließlich 250 Wörter. Auch der Schimpansenjunge Nim wurde von Menschen aufgezogen und imitierte deren Verhalten. Die noch lebende Gorilladame Koko ist in der Lage, sich mit über 1000 Zeichen zu verständigen. Da sich nur 1,3 Prozent des Erbguts von Schimpansen und Menschen unterscheiden, sind die Tiere ideale Forschungsobjekte. Affenbruder setzt sich mit diesem Thema detailliert auseinander und fragt nach den ethischen Grenzen der Wissenschaft. Nebenbei geht es um die Begriffsbestimmung von Familie und darum, wie Beziehungen entstehen.

Die in Worte umgesetzte Gebärdensprache des Affen liest sich mühelos, auch darin ist Kenneth Oppel ein Meister. (ab 12 Jahre)

Kenneth Oppel : Affenbruder. Aus dem Englischen von Gerold Anrich und Martina Instinsky-Anrich. Beltz & Gelberg 2015. 439 Seiten, 17,95 Euro.

© SZ vom 08.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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