Tiergarten:Blick auf die Toten

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Die Kanone war während der Schlacht um Berlin, in den letzten Tagen des Krieges, im Einsatz. Neben Panzern gehört sie zum Denkmal im Tiergarten. (Foto: Regina Schmeken)

Das Ehrenmal, bereits 1945 errichtet und später eine stacheldrahtumgebene Enklave, ist heute eine internationale Touristenattraktion.

Von Lothar Müller

Hoch ragt der wuchtige Sockel mit der Bronzestatue des Rotarmisten aus der geschwungenen Kolonnade von Granitpfeilern hervor. An seinem Fuß liegen seit Kurzem zwei frische Blumengebinde, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes auf Russisch und Deutsch "den Befreiern Europas vom Nazismus" gewidmet.

Davor steht ein alter Herr in Uniform, salutierend hat er die rechte Hand an die Stirn gelegt, aus der roten Schärpe, die er um seine Brust trägt, wächst ein ganzes Feld von Orden hervor. Er ist aus Odessa, sagt er, Jahrgang 1935, Kriegskind und dann Soldat.

Die Sarkophage auf dem Vorplatz in seinem Rücken sind frisch restauriert, wie alles an diesem Ehrenmal: die goldene Inschrift in kyrillischen Buchstaben auf dem Sockel, zu dem er emporblickt, die goldene Erdkugel mit Hammer und Sichel inmitten ihres Ährenkranzes, die goldenen Namen der in der Schlacht um Berlin gefallenen Soldaten auf der Pfeilerreihe, die Geschütze, von denen die Freitreppe eingerahmt wird, die Panzer, deren Rohre auf die Straße des 17. Juni weisen.

Überlebensgroß ist der bronzene Rotarmist, etwa acht Meter misst er von seinen Stiefeln bis zum Helm. Die Adjektive, die von der Straße und aus Broschüren zum ihm hochsteigen, nennen ihn "monumental", "heroisierend", "martialisch". Seine Bildhauer, Lew Kerbel und Wladimir Zigal, sind unter der Rubrik "stalinistische Ästhetik" abgelegt. Aber das hört er nicht. Er kämpft nicht mehr, sein Gewehr hängt ihm mit aufgepflanztem Bajonett über der rechten Schulter. Er steht da, das linke Bein vorgeschoben, es ist ihm gleichgültig, ob jemand darin eine Triumphgeste sieht. Er schaut, wohin sein linker Arm weist: hinunter auf die Toten. Sie sind nicht nur vor ihm, sie sind auch in seinem Rücken, in der grünen Rasenfläche des Tiergartens, ob es 2000 Gefallene sind oder 2500, weiß niemand genau.

Der Rotarmist blickt auf die vielen Toten, für Ästhetik interessiert er sich nicht. Die Geschütze und Panzer unter ihm sind keine Kunstwerke. Sie sind, wie die unter dem Tiergartenrasen verschwundenen Gefallenen, Zeugen der letzten Kriegstage. Die T-34-Panzer gehörten zu den ersten, die Berlin erreichten, die Geschütze, vor denen gerade eine junge russische Familie mit zwei Kindern fotografiert, gehörten zu den Haubitzen, die mit Salutschüssen das Ende des Krieges verkündeten.

Der Rotarmist ist älter als die meisten, die ihn fotografieren, älter als die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, älter als der Kalte Krieg. Unmittelbar nach Kriegsende wurde er entworfen, in Gips betrat er den Sockel im November 1945, als das Ehrenmal in Anwesenheit von Vertretern aller Besatzungsmächte feierlich eröffnet wurde, ehe 1946 der Bronzeguss fertig wurde.

Wer nun, an Urnen vorbei, durch die Kolonnade tritt, wo sich das Denkmal zum Tiergarten hin öffnet, der hört von rechts und links das leise Rauschen der Wasserfontänen in den von Hecken eingefassten Brunnen, blickt linker Hand auf das Bundeskanzleramt und rechter Hand auf die Kuppel des Reichstags. Nach ein paar Schritten ist er bei den ehemaligen Wachgebäuden, aus denen die Wachmannschaften längst abgezogen sind. Aber nicht die Nachkriegszeit. Eben noch war die Gegenwart vorherrschend, die in den Jahrzehnten nach dem Mauerfall vollzogene Einbettung des Ehrenmals in die Parklandschaft des Tiergartens, der Blick nach hinten auf das parlamentarische und das exekutive Zentrum der Berliner Republik, nach vorne auf die Straße des 17. Juni, die hier, in unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tors, so gern zur Fanmeile wird. Nun aber ist plötzlich in der kleinen Ausstellung an den Wänden der ehemaligen Wachgebäude die Kindheit und Herkunftswelt des Ehrenmals und seines Rotarmisten wieder da. Im leeren, nahezu baumlosen Tiergarten steht es auf der Fotografie aus dem Jahr 1946 da, inmitten der Trümmerlandschaft des zerbombten Berlin, exakt dort, wo Albert Speer die zentrale Kreuzung der siegreichen Reichshauptstadt "Germania" geplant hatte.

Jahrzehntelang stand das Ehrenmal in der Stadt, die an die Stelle "Germanias" trat, im Berlin des Viermächtestatus. Auch davon erzählt die kleine Ausstellung: wie dieses älteste der Berliner sowjetischen Ehrenmale, das im britischen Sektor, im Westteil der Stadt, lag, im Kalten Krieg zu einer stacheldrahtumgebenen Enklave wurde, von Wachmannschaften der britischen Militärpolizei geschützt, nachdem 1970 ein Rechtsradikaler einen Soldaten der sowjetischen Ehrengarde angeschossen hatte, alljährlich von Delegationen aus dem Ostteil mit Kranzniederlegungen bedacht, die verlässlich als Provokation wahrgenommen wurden.

Als es langsam, in den Jahren nach 1980, zur internationalen Touristenattraktion zu werden begann, war der Rotarmist auf seinem Sockel in den Augen des Großteils der Westberliner zum Repräsentanten der aktuell über Ostberlin und die DDR herrschenden Sowjetunion geworden. Den Rotarmisten aber focht das nicht an. Er hatte vor dem Kalten Krieg, im Kalten Krieg und danach, als er in die Parklandschaft eingebettet wurde, immer dasselbe im Blick: die Toten seiner Armee, die für die Befreiung Berlins gefallen waren.

© SZ vom 04.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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