Theaterfestival:Die Wahrheit auf der anderen Seite der Nacht

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Der Mönch (Mitte) entkommt schließlich in den Regen der Stadt. (Foto: Bea Borgers)

Mehr als K-Pop: In Südkorea hat ein gigantisches Kulturzentrum eröffnet. Sein Ziel ist Asiens Blick auf Asien. Ein Festivalbesuch.

Von Christoph Neidhart

Ein Bettelmönch liegt reglos auf einer weißen Plane, verarmt und schmutzig. Die Zuschauer treten in die Theaterhalle, der Mönch bleibt liegen. Schläft er? Ein Mann in Schwarz nähert sich, kniet und beginnt, mit Ölkreiden riesige Insekten auf die Plane zu malen. Ungeziefer. Der Mönch ignoriert auch das. Schließlich schmiert der Mann die ganze Plane schwarz ein, einfach am Mönch vorbei.

Mit dem "Mönch aus der Tang-Dynastie" von Tsai Ming-liang hat die südkoreanische Stadt Gwangju das Theaterfestival eröffnet, mit dem sie in diesen Wochen ihren "Asia Culture Complex" einweiht, ein Theaterzentrum, das sich dem Blick Asiens auf Asien widmen soll. Tsai ist ein mehrfach preisgekrönter Filmemacher aus Taiwan, der sich nun im Theater versucht.

Sein Pilgermönch überdauert Seuchen, Hunger und die Geschäftigkeit der gedankenlosen Alltagsmenschen, am Schluss des Abends entweicht er durch die offene Rückwand der Theaterhalle in den Stadtlärm. Auf seiner Suche nach Wahrheit zieht er in die Regennacht. Tsais Mönch hat ein historisches Vorbild: Xuanzang, der vor 1400 Jahren allen Widrigkeiten trotzte und von China nach Indien zog. 17 Jahre dauerte seine Pilgerreise. Zurück nach China brachte er die heiligen buddhistischen Schriften, die er dann ins Chinesische übersetzte.

Dank seinem gut dokumentierten damaligen "Blick Asiens auf Asien" wurde der Buddhismus von Afghanistan bis Japan vorübergehend zur gemeinsamen Religion des Kontinents.

Das neue Theaterzentrum, an dem in den ersten Festivaltagen noch gebaut wurde, hat seine Ursprünge in einem Traum von Roh Moo Hyun, dem früheren Staatspräsidenten Südkoreas. Roh wollte sein Land zum Drehkreuz Ostasiens machen. Für den Verkehr, den Handel, die Wissenschaft und vor allem die Kultur.

Damit sollte sich Südkorea eine Zukunft zwischen den Großen sichern, vor allem zwischen China und Japan. Roh gilt heute als gescheiterter Gutmensch. Seine Träume sind vergessen oder von seiner Person abgekoppelt. Er selber wurde mit einer Hexenjagd durch die Administration seines Nachfolgers in den Selbstmord getrieben. Offiziell wird er in Gwangju nicht einmal erwähnt. Es würde die gegenwärtige Regierung provozieren, so ein Insider, der nicht zitiert werden will.

Ohnehin halte diese Kultur bloß für eine Exportbranche und fühle sich durch den kommerziellen Erfolg des K-Pop und der koreanischen Seifenopern im Ausland darin bestätigt. Avantgarde lehne sie ab. In Gwangju tritt zu den Gegensätzen, die das wortlose Stück herausarbeitet, der inhärente Widerspruch des Spielortes. Der Asia Culture Complex des Architekten Woo Sung Kyu ist das größte Kulturzentrum Koreas, ein repräsentativer Bau, in dem man staatstragende Opern oder kommerzielle Musicals erwarten würde. Dieser Widerspruch ist bereits in Rohs Traum angelegt. Kaum ein Land ist so zentralisiert wie Südkorea, fast die Hälfte seiner 49 Millionen Einwohner leben im Großraum Seoul, auch die Theaterleute und ihr Publikum. Dass Roh sein Vermächtnis, diese Kulturdrehscheibe, gleichwohl in der Provinz ansiedeln wollte, ist eine Würdigung der Demokratiebewegung.

Wo heute das Theaterzentrum glänzt, stand früher die Stadtverwaltung von Gwangju. Vor ihr massakrierte die Armee der damaligen Militärdiktatur Südkoreas im Mai 1980 Studenten, die für die Demokratie demonstriert hatten. Die Zahl der Toten ist bis heute nicht bekannt, die Schätzungen reichen von 440 bis tausend. Dieses "südkoreanische Tiananmen", wie das Massaker auch genannt wird, stand am Anfang eines Jahrzehnts der Straßenkämpfe, mit denen die Studenten 1988 die Diktatur stürzten und freie Wahlen erkämpften.

Präsident Roh war ein Teil dieser Bewegung, sein Aufstieg ins Präsidentenamt ihr Höhepunkt. Die Moderne habe Asien seit den Fünfzigerjahren traumatisiert, schreibt der Theaterkritiker Kim Nam Soo zur Eröffnung des Zentrums. Er spricht von einer "hartnäckig eurozentrischen Weltordnung", gerade auch in der Kultur.

Der Kolonialismus, ein gewaltsam erzwungener Eurozentrismus, lastet bis heute auf dem Kontinent

Das Zentrum in Gwangju soll helfen, diese zu überwinden. Dazu werden künftig Theatergruppen und andere Künstler aus den Ländern Asiens für Gastaufenthalte eingeladen, auch ein Archiv für asiatische Bühnenkunst wird aufgebaut. Im Sinne der Demokratiebewegung, so Kritiker Kim weiter, wolle Gwangju die Kultur überdies "dem Staats-Zentrismus entziehen" und unhierarchisch werden lassen. Diese Absichten spiegelten sich in der Wahl Gwangjus ebenfalls wider.

Die künstlerische Leitung des Eröffnungsfestivals machte deshalb keine Kompromisse. Sie lud nur anspruchsvolle Avantgarde-Produktionen ein. Der Filmer Apichatpong Weerasethakul aus Bangkok zeigt in Gwangju "Fever Room", ein filmisches Vexierbild von Anfang und Ende der Welt, oder des Lebens, das zuletzt in ein Lichtspiel mit der Bühnentechnik übergeht. Auf die Frage, ob er sich einer "asiatischen Identität" bewusst sei und was Thailand mit Südkorea gemeinsam habe, stutzt er zunächst und meint dann, der Kampf um die Demokratie habe die Völker Asiens in den letzten Jahrzehnten geprägt. Bis in die Gegenwart. Das sei die wichtigste Gemeinsamkeit.

Buchstäblich um Demokratie und die Unabhängigkeit von Europa geht es in "Baling", einer szenischen Lesung des Malaysiers Mark Teh. Seine Schauspieler stellen die "Balinger Gespräche" von 1958 in Malaysia anhand historischer Protokolle nach. In Baling verhandelten die Statthalter der britischen Kolonialmacht mit Chin Peng, dem Chef von Malaysias kommunistischer Guerilla, über die Zukunft ihres Landes nach der Ablösung von London. Einigen konnten sie sich nicht, auch später nie. Chin durfte bis zu seinem Tod im Exil 2013 nicht in seine Heimat zurückkehren, selbst als kranker Greis nicht.

Der Kolonialismus, ein mit Gewalt erzwungener Eurozentrismus, lastet bis heute auf Asien, auch auf der Kultur. Zumal viele Theaterleute Südkoreas in Bochum oder München studiert haben, sie sind also "eurozentristisch geschult". Der Asia Culture Complex hat es sich zum Ziel gesetzt, dies zu durchbrechen. Er will Künstlern aus Asien Räume bieten, in denen sie sich von ihrer Fixierung auf europäische Konzepte lösen können. So wie sich der Bettelmönch im Stück von Tsai über alle Konventionen hinwegsetzt und auf seiner Suche nach der Wahrheit weiterzieht. In die Nacht.

© SZ vom 24.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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