Theater:Zerrissenheit und Paranoia

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Realismus statt Pathos: Lilly Gropper als Jungfrau von Orleans. (Foto: Marion Bührle)

Schillers "Jungfrau" und Frischs "Biedermann" in Nürnberg

Von Florian Welle, Nürnberg

Keine Fahnen, die den Leichnam heroisch bedecken. Stattdessen steht die tödlich verwundete Johanna wieder auf, und ihre berühmte Schlusssentenz "Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!" könnte sich nun auch auf die Zigarette beziehen, die sich Darstellerin Lilly Gropper anzündet. Um dann die klaustrophobische Perspektivbühne zu verlassen, deren Rückwand sich zum ersten Mal an diesem Abend öffnet. "Hinauf - hinauf", wie es Schiller für seine "Jungfrau von Orleans" vorsieht? Nein. Statt des Himmels erwartet sie bei Peter Wittenberg etwas Profaneres: der Scheiterhaufen! Scheinwerfer blenden auf, dazu Geräusche von knisterndem Feuer, die immer lauter werden. Dann Dunkelheit und Aus. Konsequenter Schlusspunkt einer fesselnden Inszenierung im Schauspielhaus, die jedes Pathos vermeidet. Im Gegenteil: Dem Idealismus des Dichters, der Johanna in seiner "romantischen Tragödie" verherrlichend auf dem Schlachtfeld sterben lässt, setzt Wittenberg mit der angedeuteten Verbrennung die historische Realität entgegen.

Zuvor sieht man einem von seinem (scheinbar) göttlichen Auftrag erst aufgepeitschten, dann zerrissenen Menschen und keiner frommen, einfältigen Kunstfigur zu. Lilly Gropper spielt die Johanna, und sie ist in ihrer Mischung aus Zartheit und Zähigkeit eine Wucht, lohnt allein schon den Besuch des psychologisch seziermesserscharfen Kammerspiels, aus dem so gut wie alles Wundergläubige entfernt wurde. Auf der in klinischem Weiß gehaltenen, sich nach hinten steil verjüngenden Bühne von Florian Parbs sind Mitstreiter wie Gegner Johannas meist steif versetzt angeordnet, ein wenig wie bei Alain Resnais in dessen Film "Letztes Jahr in Marienbad". In Aktion ist fast ausschließlich die Gotteskriegerin. Lilly Gropper erinnert im erst noch sauberen, später blutgetränkten Hemd, der Armeehose und den Stiefeln an Lara Croft und unterscheidet sich so schon äußerlich von den anderen Darstellern, die Anzüge und Kleider tragen.

Clou der Inszenierung ist aber etwas anderes: Gropper hat eine Stirnkamera auf dem Kopf, die so angebracht ist, dass sie ihre eigene Augenpartie filmt. Und weil die Aufnahmen in Echtzeit auf die Rückwand projiziert werden, hat ihre Johanna das Geschehen selbst dann im Blick, wenn sie selbst gar nicht auf der Bühne steht: Big Johanna is watching you! Gleichzeitig sieht man der im wahrsten Sinne sendungsbewussten, von Schiller als "Seherin" titulierten Johanna beständig in die Augen. Augen sind Fenster zur Seele, und so scheint der Zuschauer regelrecht in ihre Gedanken hineinzukriechen, bemerkt Freude und Staunen, Eifer und Wahn. Nur ein einziges Mal wird der Voyeurismus enttäuscht. Dann, wenn Johanna entgegen ihrem Gelübde den englischen Anführer Lionel nicht nur nicht tötet, sondern gar noch küsst. Die (Gefühls-)Nähe erzeugt ein schwarzes Bild. Fortan werden Schuldgefühle die gerade noch so reine Jungfrau zerrütten.

Auch die zweite Nürnberger Premiere des Wochenendes verfolgte ihre Inszenierungsidee mit einer Stringenz, wie man sie in dieser Spielzeit am Staatstheater des Öfteren vermisst hat. In den Kammerspielen brachte Christoph Mehler Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" auf die Bühne. Er baute die sechs Szenen des "Lehrstücks ohne Lehre" so zusammen, dass sie einer (Alb-)Traumlogik zu gehorchen scheinen: sprunghaft-zerfetzt.

Wieder gibt es ein tolles Bühnenbild. Jennifer Hörr hat eine Art umgestürzten, die ganze Bühne verriegelnden Zaun errichtet, der Gottlieb Biedermann, seiner Frau Babette und dem Dienstmädchen Anna nur das wacklige Balancieren oder das duckmäuserische Kriechen ermöglicht. Die gute Stube ist nicht mehr. Hier ist nur der in Halbdunkel getauchte Dachboden, in dem einzig die Eindringlinge Schmitz und Eisenring aufrecht stehen können.

Wer mit den Brandstiftern gemeint sei, wurde Max Frisch oft gefragt. Nun, jede Konkretisierung läuft ins Leere, und auch Christoph Mehler vermeidet sie. Vielmehr folgt er Frisch, der sie am ehesten als dämonische Kopfgeburten verstanden wissen wollte. "Ich kann nicht Angst haben die ganze Zeit!", ruft Biedermann, doch genau die Vermeidung der Angst gebiert erst die wirkliche Paranoia. Assoziationen zur gegenwärtigen Terrorangst drängen sich hier auf. Mehler verweigert den Darstellern jegliche Requisiten. Ihnen bleiben nur der Körper und die Stimme. Brillant: Stefan Lorch als Biedermann mit schlechtem Gewissen. Die Augen schreckgeweitet zittert er Worte: "Kkknechtling", "Kaaanister", "Benziiiin". Der deutsche Michel, um seinen Schlaf gebracht!

© SZ vom 12.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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