Theater:Vier Fäuste, ein Halleluja

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Läuft wie am Marionetten-Schnürchen und grüner wird's nicht: Robert Wilson setzt bei Goethes Faust auf seine bewährte Stummfilm-Ästhetik. (Foto: Lucie Jansch)

Goethes Klassiker wird zum furiosen Szenen-Event: Robert Wilson inszeniert zur Musik von Herbert Grönemeyer beide Teile des "Faust" in Berlin.

Von Christine Dössel

Am Ende, als der Beifall nicht abreißen will, tritt er doch noch an die Rampe: Herbert Grönemeyer, der Komponist des Abends. Nachdem er sich zuvor beim Schlussapplaus erstaunlich geziert und sich scheu an den Rand gedrückt hatte, singt er jetzt, von Regisseur Robert Wilson sanft nach vorne gedrängt, das Lied des Türmers Lynkeus aus "Faust II" in einer eigenen rockballadenhaften Vertonung. Und da ist er dann endlich in Reinkultur: der knödelnde, silbenpressende, nuschelnd-nölige Grönemeyer-Sound! Den hatte man in dieser O-Ton-Qualität (und -Identität) doch an diesem Abend auch vermisst.

Das "Türmerlied" beginnt mit der Zeile "Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt" und endet mit den Worten: "Ihr glücklichen Augen / Was je ihr gesehn, / Es sei, wie es wolle, / Es war doch so schön." Ja, das passt. Was auch immer man an Robert Wilsons formvollendet formstrenger, hoch stilisierter "Faust"-Inszenierung im Berliner Ensemble bekritteln kann, will und auch bekritteln muss - schön war's am Ende halt doch.

Zum Staunen, Raunen und Augenüberlaufen. Es ist ein Abend, der die kindliche Schau- und Theaterlust des Menschen befriedigt. Seine Märchenseligkeit. Sofern er sich diese erhalten hat. Goethes "Faust I und II", zusammengeschnürt an einem Abend im BE, inszeniert vom texanischen Bildermagier Robert Wilson mit der Musik des deutschen Rock- und Popkünstlers Herbert Grönemeyer - das ist natürlich vor allem auch: ein Event.

Lustig, dass ausgerechnet BE-Chef Claus Peymann gegen den "Event-Schuppen" wettert, den er künftig an der Berliner Volksbühne heraufziehen sieht, wenn nun tatsächlich der Kunstkurator Chris Dercon das Haus übernimmt.

Eigentlich erstaunlich, dass der Theater-Expressionist Wilson nicht schon früher auf den "Faust" gestoßen ist. Betrachtet man den deutschen Klassiker jedoch einmal nicht als schwere, hehre "Bibel" mit heiligen Versen, wie sie Richard Wagner einst jedem Deutschen ans Herz legen wollte, sondern als Märchen und als eine Zeitreise durch Absurdistan, findet sich darin jede Menge Brennstoff für Wilsons Bilder- und Puppentheater-Phantasie.

Wie schon in seiner legendären "Black Rider"-Inszenierung 1980 im Hamburger Thalia Theater (damals mit der Musik von Tom Waits), spielt auch im "Faust" der Teufel die verführerischste, letztlich: die menschlichste Rolle. Und wenn Faust und Mephistopheles im rätselvollen zweiten Teil der Tragödie durch mythologische Welten und Zeiten streifen, dann ist das für Wilson auch nicht anders, als gehe seine Alice noch einmal durchs Wunderland, wie damals, 1993, in seiner musikalischen Revue nach Lewis Carroll. Auch hier komponierte Tom Waits die Musik.

Nun also Grönemeyer. Schon 2003 haben sie zusammen gearbeitet, ebenfalls am BE, bei Georg Büchners Lustspiel "Leonce und Lena" - ein überschaubares kleines Stück im Vergleich zum Kosmos "Faust", den Goethe selbst als "inkommensurabel" bezeichnete, also eigentlich: unspielbar. Wenn man aber eh nur scheitern kann, schafft das auch eine Freiheit, sich selbstbewusst auf je eigene Weise dem Werk zu nähern.

Wilson und Grönemeyer machen ganz unerschrocken ein Faustical draus - ein rockiges, manchmal ein bisschen kitschiges, aber ungeheuer bilderstarkes "Faust"-Musical. Es ist ein streng durchchoreografiertes Spiel mit Schauspielern, die wie Puppen agieren, mit weiß geschminkten Gesichtern und expressionistischer Stummfilm-Gestik. Viel Scherenschnitt- und Schattentanz-Optik. Alles läuft wie am Marionetten-Schnürchen.

Es ist ein Spiel mit Doppelungen, Echos, mechanischer Bewegung im Raum. Das ist nicht immer große Kunst. Aber ganz großes Kunsthandwerk. Man sieht in jeder Szene, wie viel Arbeit und Feinschliff darin stecken, wie viel Liebe zum Detail. Und zum Effekt. Allein wie der Beleuchtungsfanatiker Wilson hier wieder einmal mit Licht zaubert, aus dem Schwarz nur ein Gesicht oder eine Hand hervorhebt, dann wieder die ganze Bühne in Farblandschaften taucht, das ist schon von erlesener Schönheit. Aber es gibt auch ironische Brüche, schräge Nummern, Varieté-Einlagen, und als runnnig gag fungieren lautverstärkte Geräusche: Rülpser, Schluckauf, schmatzende Münder. Robert Wilson ist als "Faust"-Regisseur dann doch erfreulich komisch aufgelegt.

In gut vier Stunden geht es durch die große und die kleine Welt. Jutta Ferbers hat den Text radikal auf zentrale Stellen eingekürzt. "Faust I" wird relativ zackig durchgehandelt - mit vier Fäusten, drei Gretchen und einigem szenischen Halleluja. Osterspaziergang, Studierzimmer, Hexenküche - alle das wird nur kurz angerissen.

Manche Szenen bestehen dann leider nur noch aus Kernsätzen, die mehrmals wiederholt werden. Durch die Vervielfachung der Figuren ist das sprachmusikalisch sehr effektiv. Wilson arbeitet mit Studenten der Schauspielschule Ernst Busch, die ziemlich gut singen können. Der Faust aber ist nur ein vierfacher Fäustling. Unter Auslassung von Auerbachs Keller geht es schnurstracks zur Gretchen-Geschichte, deren Tragik schwer versüßlicht und in der Kerkerszene auch ärgerlich verharmlost wird.

Der wesentlich unzugänglichere zweite Teil kommt Wilsons Märchenbilder-Inszenierlust besser entgegen. Der ulkige Kaiser mit seinen debilen Hofschranzen, die Szenen mit Helena und Paris, der kleine singende Roboter Homunculus, am Ende dann das alte Paar Philemon und Baucis, deren Hütte Faust wegsprengen lässt - da gelingen Wilson schöne und anspielungsreiche Bilder.

Grönemeyer hat den Abend tatsächlich durchkomponiert, nicht nur ein paar Lieder geschrieben. Er liefert den gesamten Soundteppich, lässt orgeln, donnern, schmalzen, rappen, steppen und sehr viel - zu viel! - geigen, je nach Stimmungs- und Szenenumbaulage. Ob Jazz, Blues, Flamenco, zirzensische Varieté- oder sanfte Gefühlsmusik, ob Balladen oder Choräle: In Grönemeyers Jukebox ist alles drin. Die Musik ist schmissig, gefällig, funktional - und ein bisschen auch beliebig. Vieles klingt nach Synthesizer und Computer-Kompositionsprogramm mit bekannten Versatzstücken. Aber es gibt auch richtig gute Songs. Mephisto jodelt einmal sogar.

Christopher Nell ist sensationell in dieser Rolle, der eigentliche Star des Abends: eine sinnenfrohe Mischung aus abgetakeltem Altrocker, durchtriebenem Großstadtindianer und unternehmungslustiger Transe. Ungeheuer agil, lasziv, spitzbübisch. Ein Theatertier.

Wenn er am Ende eines seiner beiden Teufelshörnchen abnimmt und es seinem alten Kumpel Faust (nun gespielt von Fabian Stromberger) auf den Kopf setzt, wird klar: Hier werden zwei Seelen eins. Bloß gut. Denn Faust selbst ist an diesem Abend eine reine Nulpe.

© SZ vom 24.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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