Tanztheater:Lob der Differenz

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Jérôme Bels zauberhafte Berliner "Gala" macht die Tanzbühne zu einem Labor der Inklusion.

Von Dorion Weickmann

Mensch ist nicht gleich Mensch, und Theater nicht gleich Theater. Da gibt es das antike Rund mit Meeresblick, die Schulaula, die Freiluftbühne, das Show-Podest im Einkaufszentrum, das japanische Auditorium mit Sitzholzsteg, Palladios ideales Teatro in Vicenza, das intime Hof- und das repräsentative Staatstheater, die kommunale Mehrzweckhalle.

Zwischen Zuschauern und Akteuren verläuft zwar stets eine Grenze: die Rampe. Doch die Projektion unterschiedlichster Theaterräume, die der Choreograf Jérôme Bel an den Anfang seiner "Gala"-Performance im Berliner Hebbel am Ufer setzt, macht deutlich: Diese Grenze ist ein Konstrukt, eine Spielregel, die sich wie jede Vereinbarung aufheben lässt.

Weshalb Bels "Gala" nicht irgendwelche Promi-Profis defilieren lässt, sondern ein bunt gemischtes Alltagsvölkchen in einen Kunst-Pulk verwandelt. In ein achtzehnköpfiges Ensemble, das Kinder und Alte, Entertainer und Tänzer, Turner und Rollstuhlfahrer, Behinderte und Ballerinen, Amateure und Alleskönner für eine gute Stunde zusammenschweißt - mit so zauberhaftem wie intelligentem Ergebnis.

Als der Franzose 2012 mit dem Zürcher Theater Hora und dessen geistig gehandicapten Schauspielern "Disabled Theater" herausbrachte, diskutierte das Publikum über Sinn, Zweck und Ethos solcher Produktionen. Die Empirie hat diese Debatte längst überholt, denn die Schweizer Truppe ist immer noch weltweit mit Bels Inszenierung unterwegs.

Rückblickend wird deutlich, dass die widerstreitenden Reaktionen sich fast durchweg aus Bauchgefühlen speisten. Als "ergreifend" oder "authentisch" etikettierten Befürworter die Qualität der Aufführung, wo die Gegner eine "Freak-Show" mit zwangsexhibitionistischem Charakter attackierten. Der Kunstbegriff spielte kaum eine Rolle, allenfalls wurde das Aufbrechen tradierter Sehgewohnheiten begrüßt.

Doch die seinerzeit umkämpfte Frage, ob Theater eine inklusive Betriebsform sein kann, sein muss - und damit Vorhut gesellschaftlicher Inklusion - geht am Kern der Sache vorbei. Kunst lässt sich weder ausschließlich auf der Affektebene verhandeln noch auf die Funktion eines Teilhabe-Projekts reduzieren, auch nicht mit den allerbesten Absichten. Kunst setzt Können voraus und das Vermögen, über sich selbst hinauszuwachsen. Das Theater erfordert zudem die Fähigkeit der Erkenntnis jenseits emotionaler Wallungen. Genau hier rastet Jérôme Bels "Gala"-Vorstellung ein, indem der Choreograf zwei Motivstränge ineinander hakt und dabei die Bedeutung von Eigenheit und Empathie für das Kollektiv untersucht.

Bis zur Pause verkündet der Aufsteller am linken Bühnenrand nacheinander "Ballett", "Walzer", "Michael Jackson", "Verbeugung" - mit Ausnahme des Dreivierteldrehtanzes lauter Einzelnummern, in denen jeder Darsteller ein unverwechselbares Bewegungsprofil in den schwarzen Bühnenkasten zeichnet. So wird die "Billie Jean"-Hymne des King of Pop mit originalgetreuem Moonwalk, mit Rückwärts-Hüpfern, zierlichem Trippeln, Schlurf-, Schleich- und Zappelmodus unterlegt. Achtzehn verschiedene Köpfe bedeuten eben achtzehn verschiedene Varianten, die freilich nirgends ins rein Dilettantische driften, sondern dem Theater geben, was des Theaters ist: eine sichtbare Form.

Im paarweisen Walzerschwung legt Bel schon an, was er im zweiten "Gala"-Teil in den Vordergrund rückt. Harmonisches Zusammenspiel gelingt nur im Prozess der Adaption, also des Angleichens von Größe, Rhythmus, Takt, Tempo der Schritte an das Gegenüber. Was bedeutet, Empathie zu üben und versuchsweise in die Haut des anderen zu schlüpfen. Bel unterstreicht diese Botschaft mit einem Kostümtausch für die gesamte "Gala"-Crew, bevor das Spektakel seinem Höhepunkt zustrebt - dem Auftritt der "Kompanie". Jeweils ein Solist, eine Solistin gibt die Richtung vor, tanzt eine zu Rock, Techno oder Klassik arrangierte Choreografie, die das Ensemble nachvollzieht: jeder nach seinen Kräften, Möglichkeiten, Stärken - Schwächen? Sie kommen erst gar nicht in Sicht.

Das ist die philosophische Lektion, die Bels "Gala" in Form einer Charme-Offensive erteilt: Wenn Inklusion mehr als ein Schlagwort sein soll, ist es mit der Anerkennung von Unterschieden nicht getan. Es braucht: ein Lob der Differenz. Genau darauf verstehen sich Kunst und Theater von jeher prächtig.

© SZ vom 26.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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