Tanztheater:Eine Luftnummer

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Absurd-komisch: Paul White und Azusa Seyama als Vierfüßler-Insekt. (Foto: N/A)

Das Tanztheater Wuppertal wagt das erste Programm mit neuen Stücken seit Pina Bauschs Tod. Das Ergebnis ähnelt einem Kindergeburtstag.

Von Eva-Elisabeth Fischer

"Ich bin gespannt" - diesen Satz hört man an diesem Abend ununterbrochen im Wuppertaler Opernhaus. Sechs Jahre nach dem Tod von Pina Bausch ist dies das erste Programm mit neuen Stücken und neuen Tänzern. Es riecht nach Aufbruch. Und das elektrisiert. Lutz Förster schaut ein wenig befremdet. "Verjüngung der Kompanie? - Es gibt keine alten, sondern nur erfahrene Tänzer", erklärt er, der selbst von 1975 an bei Pina Bausch getanzt hat. Dennoch plädierte der Professor für Tanz an der Essener Folkwang-Hochschule für Neuengagements, als er 2013 die künstlerische Leitung der Kompanie übernahm.

Die elf neuen im inzwischen um sechs Stellen auf 35 Tänzerinnen und Tänzer erweiterten Ensemble bringen viel Potenzial mit, haben aber nicht mehr selbst mit Pina Bausch gearbeitet. Der große Rest von 24 Männern und Frauen hingegen blickt auf reichlich Erfahrung von 20 bis 30 Jahren Tanztheater an der Wupper und in der Welt zurück. Wenn alles gut läuft, können sie einander prächtig ergänzen.

Bauschs Stücke machen auch weiterhin das Herz des Repertoires aus. Und jeder Choreograf, der von außen kommt, wird erst einmal seine Scheu vor dem übermächtigen Œuvre überwinden müssen, um damit eigenständig arbeiten zu können. Der Generationenwechsel wird sich organisch vollziehen. Kein Wunder, dass man bei diesem ersten Versuch, das Repertoire aufzufrischen, den Ball flach gehalten hat. Für den dreiteiligen Abend unter dem Tanztheater-typischen Titel "Neue Stücke 2015" wurde keine Werbung gemacht. Gastspiele sind bisher nicht geplant.

Förster hat drei renommierte Produzenten beauftragt, die Choreografen auszusuchen. Die Vorgabe: Alle Tänzer sollten beschäftigt werden. Alistair Spalding vom Sadler's Wells London, Myriam De Clopper von De Singel in Antwerpen und Stefan Hilterhaus vom Pact Zollverein entschieden sich für eine ziemlich disparate Konstellation. Den Abend eröffnete der in Großbritannien lebende Theo Clinkard mit seinem ersten Auftragswerk für eine professionelle Kompanie überhaupt. Cecilia Bengolea und François Chaignaud zählen zu den Newcomern in Frankreich, während Tim Etchells schon vor Jahren auch in Deutschland dank seiner Gruppe Forced Entertainment als Guru des freien englischen Theaters zu Ruhm und Ehren gelangte.

Was die Stücke dieser ungewöhnlichen Trias eint, bereitet wenig Freude. Szenen, die ihnen die erfahrenen Tanztheatertänzer aus dem Bausch-Fundus auftischten, wurden offenbar kritiklos übernommen. Solche Bewegungs- und Aktionszitate flottieren nun als anekdotische Puzzle-Teilchen in losen Bilderfolgen. Sinnentleert dargeboten von Bühnenroutiniers als Karikaturen ihrer selbst. Dagegen kommen auch die Jungen nicht an. Außerdem ist es keinem der Choreografen gelungen, aus seiner jeweiligen Materialsammlung ein in sich schlüssiges Stück zu bauen. Nichts ist zwingend. Keine Dringlichkeit, nirgends.

Theo Clinkard nannte sein öffentliches Warm-up von neun Tänzerinnen und Tänzern auf leerer Bühne "Somewhat Still Seen from above". Die wohl beabsichtigte Assoziation mit dem berühmten Bill-Forsythe-Titel "In the Middle, somewhat Elevated" erübrigt sich schnell angesichts all der recht zufällig arrangierten Nichtigkeiten. Bühnenarbeiter schleppen Leitern herum und pusten Trockeneis auf einsam vor sich hin kreiselnde und sich dehnende Tänzer in Trainingsklamotten. Basis für choreografisch Überraschendes hätte der gehüpfte und geschnippte Gruppen-Hully- Gully sein können zu Booker Ts cool orgelnden "Green Onions". Stattdessen wurde, auch wegen James Keanes stilistisch zusammengeklaubter Violin-Komposition, in "Somewhat Still" jeder interessante Ansatz buchstäblich vergeigt.

Und so geht es fort mit den einsamen schönen Momenten an diesem Abend. Cecilia Bengolea und François Chaignaud gelingen einige mehr als Clinkard, schon weil sie lauter irre Typen inszenieren. Zum Beispiel verhakt sich der fabelhafte Paul White samt elisabethanischer Halskrause und Latexstrümpfen mit der exotisch schönen Azusa Seyama zu einem putzigen Vierfüßler-Insekt, erotisch und dabei absurd-komisch. In "The Lighters Dancehall Polyphony" allerdings verheddert sich das Kreativduo hauptsächlich selbst in seinem postmodernen Eklektizismus samt tanzhistorischen Exkursen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch Tänzer, die das gar nicht können, rappen und Madrigale singen müssen. Macht nichts, besticht doch der hübsche Gegensatz von sexy Hüftschwung und Kirchenchoral.

Tim Etchells, an sich ein Mann des Wortes, hat am Zürcher Schauspiel zu Marthaler-Zeiten schon mal ziemlich gut mit Meg Stuart zusammengearbeitet. Bei "In Terms of Time" braucht er 65 Minuten, um seine Variationen zum Thema Luft als läppischen Kindergeburtstag zu camouflieren und mit dem Restmüll der Requisiten ein berückendes Tableau zu bauen. Zehn Männer und Frauen balancieren stürzende Plastikbecher-Türme, steigen auf Stühle für einen Luftballon-Aufblas-Wettwerb und befüllen laufend blaue Mülltüten mit Luft. Zu den Gruppenaktionen betreiben die ganz Erfahrenen der Kompanie, Nazareth Panadero, Julie Shanahan und Regina Advento, solistisch Pina-Bausch-Resteverwertung. Panadero schüttelt Wassertropfen vom Finger und macht "plopp" dazu; Shanahan schnippt ihr Feuerzeug an und schleppt den Brandlöscher gleich mit; Advento bestäubt sich wiederholt mit Puderzucker und schleckt ihn dann ab. Emma Barrowman, bisher am Bayerischen Staatsballett und daher neu, illustriert zusammen mit Fernando Suels Mendoza Nähe und Distanz in der Liebe mit Hilfe eines Zollstocks. Wie banal!

Am Ende erwächst aus dem Kessel Buntes endlich ein schönes Bild. Ein großer Tisch links, darum herum die Großfamilie in lautstarker Selbstbehauptung sich produzierender Tänzer; dahinter die zerborstenen Plastikbecher; daneben ein luftiger Abfalltütenberg in Himmelblau. Am Ende bilden die Tänzer eine Chorus Line an der Rampe und drücken die Blasen einer Luftpolsterfolie aus. Es wird wohl heiße Luft gewesen sein.

© SZ vom 21.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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