Tanztheater:Der lange Schatten von John Cranko

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Großes Erbe: Der designierte Intendant Tamas Detrich soll das Stuttgarter Ballett in die Zukunft führen. Er ist dort selber als Tänzer groß geworden. Nun muss er den Spagat schaffen zwischen Tradition und Moderne.

Von Adrienne Braun

Wenn Tamas Detrich spricht, muss man die Ohren spitzen. Leise redet er, zögerlich und bedacht, als sei ihm selber nicht ganz geheuer, was er sich eingebrockt hat. Die Politik hat entschieden, der Vertrag ist eingefädelt: Tamas Detrich wird neuer Intendant des Stuttgarter Balletts. Selbst wenn er erst 2018 seinen Chef Reid Anderson beerben wird, scheint Detrich bereits zu ahnen, dass von ihm viel Diplomatie gefordert ist, dass er jede Formulierung sorgfältig prüfen muss, weil die Erwartungen nicht nur hoch, sondern widersprüchlich sind. Tamas Detrich soll das Stuttgarter Ballett in die Zukunft führen und neue Impulse entwickeln - dabei aber auf keinen Fall die Tradition vernachlässigen, die in Stuttgart sehr schwer wiegt: das Erbe John Crankos.

Der gebürtige New Yorker hat als Tänzer in Stuttgart eine Bilderbuchkarriere hingelegt

Wie ein Übergott schwebt Cranko über der Kompanie, noch immer. Vor 42 Jahren starb der aus Südafrika stammende Choreograf, aber "das Stuttgarter Ballettwunder", wie die Ära Cranko genannt wird, ist allseits präsent. Nach wie vor hängen die alten Schwarz-Weiß-Fotos von Cranko, von Marcia Haydée und Richard Cragun in den Fluren und Ballettsälen. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie, die fast alle in der benachbarten John Cranko Schule ausgebildet wurden, halten ehrfürchtig die Namen der einstigen Heroen hoch. Selbst die preisgekrönte erste Solistin Alicia Amatriain gesteht offen, dass sie die langjährige Stuttgarter Primaballerina Birgit Keil darum beneide, in der Ära von Cranko getanzt zu haben - "das war ein unglaubliches Glück", sagt sie, während Keil es sogar pathetisch "eine Gnade" nennt.

Auch Tamas Detrich ist in dieser vollständig an Cranko ausgerichteten Kompanie groß geworden. Der 55-Jährige wurde in New York geboren, wohin die Eltern aus Ungarn geflüchtet waren. Der Vater betrieb ein Klaviergeschäft gegenüber der Carnegie Hall, und eigentlich sollte die Schwester auf die Ballettschule gehen. Da Mangel an Jungen herrschte, bekam Tamas ein Stipendium - gerade erst zehn Jahre alt, spürte er: "Das ist es."

Als das Stuttgarter Ballett in New York gastierte, wurde Detrich Statist bei "Romeo und Julia" und war sofort entflammt. Daheim versuchte er, den Romeo nachzutanzen, zu einer eiernden Prokofjew-Platte. Und obwohl er krank wurde, tanzte er den Stuttgartern vor - mit Erfolg. Detrich ging nach Deutschland und legte eine Bilderbuchkarriere hin: John Cranko Schule, später Solist und erster Solist. Er tanzte seine Traumrollen, Romeo, Onegin und Lenski in "Onegin". Detrich wurde eines der Aushängeschilder des Stuttgarter Balletts, Uwe Scholz, David Bintley und Jiri Kylián kreierten eigens Rollen für ihn.

An diesem Donnerstag wird nach jahrelangem Gerangel um die Finanzierung der erste Spatenstich erfolgen für einen Neubau der John Cranko Schule, ein Internat für siebzig Schüler mit acht Ballettsälen, Schulräumen und einem Gesundheitszentrum. Auch die Sanierung des Stuttgarter Opernhauses ist nun beschlossene Sache. "Ich mache seit zwei Jahren die Sitzungen mit Architekten mit, das ist kein Neuland für mich", sagt Detrich und ist überzeugt, auch auf dem politischen Parkett bestehen zu können. 2002 beendete er seine Karriere als Tänzer und wurde Ballettmeister, 2004 stellvertretender künstlerischer Leiter, seit 2009 ist er Reid Andersons offizieller Vertreter - er hat sich damit zum Intendantenamt hingearbeitet. "Ich habe das Vertrauen der Kompanie, ich bin Ballettmeister, Coach, Ansprechpartner und täglich viele Stunden im Studio", sagt Detrich.

Die Tänzerinnen und Tänzer des Stuttgarter Balletts, so hört man, seien erleichtert, dass es keine radikale Zäsur geben wird. Zwanzig internationale Kandidaten hatte die Findungskommission ins Visier genommen - und hat sich in doppelter Hinsicht für die Tradition entschieden: Sowohl die Intendantin Marcia Haydée als auch ihr Nachfolger Reid Anderson kamen aus der Stuttgarter Kompanie.

Mit Tamas Detrich ist Kontinuität in Sachen Cranko also garantiert, selbst wenn Kulturministerin Teresia Bauer ihm die Mahnung mit auf den Weg gab, dass man "allein mit Bewahren kein Ballett von internationaler Leuchtkraft aufstellen" könne. "Es kann nicht stagnieren, es muss weitergehen", sagt denn auch Detrich - und weiß doch, dass er sich keine riskanten Experimente leisten darf, die das Zugpferd des Dreispartenhauses gefährden könnten. Die Platzauslastung im Ballett liegt bei mindestens 92 Prozent, die Cranko-Ballette sind aber auch erfolgreiche Exportartikel und bescheren dem Staatstheater Stuttgart Einladungen nach Japan oder ans Moskauer Bolschoi. Der Cranko-Erbe Dieter Gräfe und sein Lebenspartner Reid Anderson wachen außerdem streng über die Einstudierung der Ballette, weshalb Anderson und Detrich regelmäßig zu Kompanien in der ganzen Welt reisen, um ihnen den Cranko'schen Feinschliff zu verpassen.

Auch diese Kontakte will Detrich nutzen, um in die Kompanie "einen anderen Flavour" zu bringen, aber es spricht viel dafür, dass er letztlich Reid Andersons Kurs fortsetzen wird, der ja auch bemüht ist, neben dem Cranko-Repertoire zumindest einige zeitgenössische Akzente zu setzen mit Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui, Marco Goecke oder Demis Volpi. Er wolle diese Tradition auf seine Art fortsetzen, sagt Detrich, "mit neuen Impulsen".

Das mag entschieden klingen, aber die Nervosität ist ihm anzumerken. Drei Jahre hat der designierte Ballett-Chef nun Zeit, sich auf die Aufgabe vorzubereiten. "Ein Ziel zu haben, ist wichtig", erklärt Detrich, "ich habe immer ein Ziel gehabt." Der Gefahr, dass es bei allzu viel musealer Pflege des Cranko-Erbes womöglich nicht zum großen Aufbruch des Stuttgarter Balletts kommen könnte, ist er sich durchaus bewusst. "Aber ich bin Optimist", sagt Detrich, "wenn man anfängt, über das Scheitern nachzudenken, dann ist man im falschen Beruf."

© SZ vom 21.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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