Tanz:Selbstgespräch mit Puppe

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Das Berliner Festival "Tanz im August" bereitet alten Avantgardisten wie Valda Setterfield und Gus Solomons Jr. einen großen Auftritt.

Von Dorion Weickmann

Virve Sutinen, künstlerische Leiterin des Berliner Festivals "Tanz im August", setzt der digitalen Überflutung eine analoge Grenze. Im zweiten Stock des Theaters Hebbel-am-Ufer hat Sutinen eine Bibliothek eingerichtet und die Künstlergäste um Leihgaben gebeten, um anregende Bücher, produktionsrelevante Lektüren. Also wanderten Ausstellungskataloge zu Marcel Duchamp und Derek Jarman, feministische Manifeste und Ethno-Studien in die Regale. Nur ein Buchgestell tanzt ganz und gar selbstbezüglich aus der Reihe. Der Choreograf VA Wölfl, Avantgardist der alten BRD, lieferte einen Fotoband - einziger Inhalt: "VA Wölfl".

Nun gehören Künstlertum und Monomanie vermutlich zusammen, aber dass Wölfl vorzugsweise im eigenen Saft schmort, belegt nicht nur das deponierte Buch. Vielmehr erwies sich auch seine jüngste, ins Haus der Berliner Festspiele geklotzte Inszenierung "von und mit nach t: No 2" als Aufguss älterer Arbeiten, als Spektakel, angereichert mit charakteristischen Geschmacksverstärkern. Pistolen und Paillettenkleidchen schaffen Western-Atmosphäre und dass der Düsseldorfer Alt-Revoluzzer längst fürs Establishment reitet, macht er beim Gespräch nach der Aufführung klar. Auf Fragen antworten? Kannste knicken, Cowboy!

Dabei überrascht "von und mit nach t: No 2", mit dem die erste von insgesamt drei hochsommerlichen Hauptstadttanzwochen zu Ende ging, immerhin mit einer interessanten Geschichtslektion: Mittendrin dürfen sich Wölfls sonst meist zu minimalistischem Links-rechts-Trott verdonnerte Tänzer in Brautroben werfen und die Ermordung Robert Kennedys am 5. Juni 1966 nachstellen. In Zeitlupe markieren sie dabei die wechselnden Positionen von Täter, Opfer, Augenzeugen. Sie sind wie Renaissancegemälde komponiert, deswegen ergeben die Bilder eine Art serieller Beweinung von Jesus Christ Superstar - alias Bobby Kennedy senior.

Die Tänzer führen Waffen und Bibeln spazieren. Über die Kulissen jagen Militärflugzeuge

Der erzkatholische US-Präsidentschaftskandidat starb von der Hand eines Palästinensers, das Attentat war auch ein Anschlag auf die amerikanisch-israelische Freundschaft. Diese hintergründige Gemengelage verhilft Wölfls historischer Ikonografie zur Aktualität: Nichts scheint seit dem Attentat gelöst zu sein - schon gar nicht der Nahostkonflikt. Dass sein Tänzer-Trupp Waffen und Bibeln spazieren führt, dass Militärflugzeuge über die Rückwand des weißen Bühnenkastens jagen, gehört zwar zu den Standard-Effekten des rheinischen Meisters. Aber IS-Terror und Kreuzzüge im Namen Allahs haben den Blick des Betrachters neu justiert und laden selbst abgegriffene Requisiten mit Bedeutung auf. Was sich von Wölfls Ästhetik nicht behaupten lässt.

Virve Sutinen kuratiert heuer ihre dritte "Tanz im August"-Ausgabe und wurde für das überzeugende Programm der beiden Vorjahre mit einer städtischen Mittelaufstockung von 200 000 Euro belohnt. Das ist nicht genug, um mit erstrangigen Festivals wie dem Wiener "impulstanz" ( SZ vom 11.8.2016) zu konkurrieren. Die Finnin behilft sich mit der Konzentration auf jeweils eine Weltregion. 2016 ist der Westen dran, seine Wirklichkeit und seine Werte stehen im Mittelpunkt des Festivals, mitsamt der persönlichen Geschichten, die daraus erwachsen. Das gilt für Emanuel Gats Strand-und Travestieparty "Sunny", die Bobby Hebbs Hit von 1966 hinterherlauscht. Das gilt ebenso für Claire Cunninghams Überlebens-Ode "Give Me A Reason To Live" oder das Transgender-Biopical "MDLSX". Den kraftvollsten Akzent aber setzt ein Quartett, das zur Hälfte aus Senioren besteht - aus den Tanzlegenden Gus Solomons Jr. und Valda Setterfield.

Die Vorhut des postmodernen Tanzes hatte den Vietnam-Krieg ins Visier genommen

Drei Handpuppen tanzen durchs Dunkel, ein schwarzes Gesicht mit weißem Bart bringt sie zum Sprechen und hält zugleich Zwiesprache mit ihnen. "Ich glaube, ich brauche jetzt einen Schluck", verkündet die Puppe, eine hölzerne Wiedergängerin der Urmutter des Modern Dance, Martha Graham. Der Komponist John Cage und der Choreograf Merce Cunningham servieren ein paar Häppchen ihrer Kunstphilosophie - eingesprochen von Gus Solomons Jr., der sie alle drei kannte und mit ihnen gearbeitet hat und heute als knapp Achtzigjähriger Zeugnis ablegt von den postmodernen Tanzrevolutionen des 20. Jahrhunderts. Valda Setterfield hat noch ein paar Jahre mehr im Lebensgepäck, dazu eine Karriere bei Cunningham & Co. Sie spricht aber nicht nur über den Tanz, sondern auch über Schwangerschaft und Geburt: "Ich dachte, als Tänzerin wüsste ich alles über meinen Körper, und dann kamen die Wehen." Das US-Tandem hat zwei dieser "Monument" betitelten Vorstellungen in Berlin organisiert. Sie werden als magische Zeremonien des Abschieds und der Weitergabe in Erinnerung bleiben.

Im Atrium der Akademie der Künste entfaltet Valda Setterfield zwischen Zierteich und Schilfrohr die Basics der postmodernen Technik. Armführungen und Balancen, Neigungen und Schwünge des Oberkörpers baden im Rotgold der Abendsonne. Nach zwanzig schweigsamen Minuten reicht Setterfield das Bewegungsensemble an die jüngere Kollegin Eszter Salamon weiter. Die hat im Vorfeld einen Stapel der International New York Times auf dem Boden verteilt. Es ist die Ausgabe vom 19. August, deren Titelseite das blutverkrustete Gesicht des kleinen Omran aus Aleppo zeigt.

Es braucht weder Pistolen noch Bibeln, um klarzumachen, dass die Welt aus den Angeln ist. Dass die Kunst nicht kneifen kann, sondern hinschauen muss, so wie einst die Vorhut der postmodernen Tanzwelle den Vietnam-Krieg ins Visier nahm. Je sachter, je unaufdringlicher dies geschieht, desto eindringlicher die Wirkung. Die "Monument"-Macher liefern den Beweis.

© SZ vom 23.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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