Südamerikanische Literatur:Idol oder Tod

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"Die letzten Tage des Comandante" - Alberto Barrera Tyszka erzählt vom Aufstieg und Sterben des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez.

Von Ralph Hammerthaler

In Maracaibo geschah es, dass plötzlich drei Fallschirmspringer der Streitkräfte vom Himmel schwebten, um der gerade gekürten Miss Venezuela ein Geschenk zu übergeben. Einer dieser Fallschirmspringer hieß Hugo Chávez. An diese Anekdote erinnert Alberto Barrera Tyszka in seinem Roman "Die letzten Tage des Comandante". Und damit daran, dass den ohnehin schillernden Chávez, von 1999 bis 2013 Präsident Venezuelas, auch etwas Operettenhaftes umspielte. Zudem verweist der Fallschirmspringer auf die soldatische Herkunft. Chávez war, was hinter seiner sozialistischen Rhetorik leicht übersehen wurde, ein Mann des Militärs. Im Militärkrankenhaus von Caracas ist er gestorben, in der Militärakademie wurde er aufgebahrt. Unverhohlen gab er einmal zu: "Ich glaube nicht an eine Partei, auch nicht an meine eigene. Ich glaube an das Militär, dort wurde ich der, der ich bin."

Mit einer Handvoll Figuren spannt Tyszka ein verblüffendes Gesellschaftspanorama auf

Bereits 1992 versuchte er, sich an die Macht zu putschen; der Putsch misslang, und er saß eine Zeit lang im Gefängnis. Wenige Jahre später erreichte er sein Ziel auf demokratische Weise, er wurde mehrheitlich gewählt, dann wieder und wieder. In der ersten Periode, 2002, putschte das Militär dann gegen ihn, aber nach nur zwei Tagen war er, unterstützt durch treue Soldaten, wieder da. Auf das Schillernde, das in der Figur des Hugo Chávez lag, lässt Tyszka sich ein, ohne der Versuchung zum Eindeutigen zu erliegen. Statt Heldenverehrung oder Heldenvernichtung zu betreiben, stellt er die einen gegen die anderen, Verehrer gegen Vernichter und umgekehrt. Miguel Sanabria, ein pensionierter Onkologe, ist verhalten kritisch, seine Frau Beatriz vernichtend kritisch, Miguels Bruder Antonio ehrerbietig ergeben, dessen Sohn Vladimir gar beratend tätig im Team des Präsidenten. Mit einer Handvoll Figuren spannt Tyszka ein verblüffendes Gesellschaftspanorama auf. Auch überkreuz.

Denn Vladimir fühlt sich seit jeher stärker von seinem Onkel angezogen als von seinem Vater. Darum händigt er Miguel eine Zigarrenkiste aus - für eine amerikanische Journalistin gedacht, falls ihm etwas zustoße. In der Kiste liegt ein Handy, zwei Videos sind darauf gespeichert, Ch1 und Ch2. Irgendwann kann Miguel seine Neugier nicht mehr bezähmen und schaut sie an: Chávez in einem Krankenhaus auf Kuba. "Was sollte er tun mit den letzten Worten des Comandante?" Das ganze Land steht im Bann des an Krebs erkrankten Präsidenten. Informationen fließen nur spärlich, Gerüchte wuchern.

Feier der Vitalität: Hugo Chávez als Statue vor einem Hotel in Porlamar, Venezuela. (Foto: Marco Bello/Reuters)

Im Wahlkampfjahr 2012 behauptet Chávez, er sei genesen, und wird prompt wiedergewählt, nur um nach der Wahlparty erneut von der Bildfläche zu verschwinden. Gewöhnt an seine charismatischen Ansprachen und stundenlangen Sonntagspredigten im Fernsehen, sieht sich das Volk durch knisterndes Schweigen bedrängt. Viele beten für Chávez, Messen werden gehalten. Und die alte Losung "Patria o muerte" (so der Originaltitel des Romans), Vaterland oder Tod, verschwindet stillschweigend aus der Öffentlichkeit. Denn angesichts eines todkranken Präsidenten erscheint diese Alternative absurd. Die Nachricht vom nahen Ende des Comandante lässt Bürgerliche wie Andreína Mijares nach Venezuela zurückkehren. Aber ihre Wohnung ist von einer Familie besetzt, die keine Anstalten macht auszuziehen. Also heuert sie in einem Armenviertel drei Frauen an, um mit ihnen in der eigenen Wohnung einzubrechen und sie ihrerseits zu besetzen. Dort führen sie sich so lange säuisch auf, bis Frau und Kind abhauen. Die drei Frauen verehren Chávez inbrünstig, und Andreína tut gut daran, keine politische Diskussion anzuzetteln. Denn Chávez half den Armen mit milliardenschweren, durch den Verkauf von Erdöl finanzierten Programmen: Gesundheitsversorgung, Sozialwohnungen, Lese- und Schreibkurse, Zuschüsse für die Ernährung. Er war der erste Präsident Venezuelas, der das Elend zu lindern suchte.

Fredy, der Mann der vertriebenen Familie, wenn auch ohne Trauschein, hält sich derweil auf Kuba auf. Er ist ein arbeitsloser Journalist, der sich durch ein Buch über Chávez Rettung verspricht und eine ausreisewillige Kubanerin heiratet, um an Informationen aus dem Krankenhaus zu gelangen. Nach seiner Rückkehr wird er vom Geheimdienst gestellt. Die Männer bieten ihm eine hohe Summe, wenn er sein Buch ein bisschen manipuliert, immer entlang der revolutionären Idee, entlang des geistigen Erbes des Comandante. Später stößt Fredy auf einen Spruch von Rex Stout: "Nichts korrumpiert einen Menschen so sehr, wie ein Buch zu schreiben."

Tyszka weiß also um die Gefahren, die in einem Roman über Chávez lauern. Aber er entgeht ihnen dadurch, dass er ganz auf eine literarische Wahrheit setzt, die nur durch widersprüchliche Positionen zu haben ist. Ein Herz für die Armen, schön und gut. Aber warum sind zwanzig Millionen importierte Tonnen Lebensmittel nie verteilt worden, warum ist das Essen verfault?

Nie schlägt Tyszka sich auf die eine oder andere Seite, und über die Bedeutung von Hugo Chávez für Lateinamerika verliert er leider kein Wort. Durch Chávez verspürte die Linke allgemein Aufwind, ablesbar an den Wahlen in Bolivien und Ecuador. Kuba und Nicaragua unterstützte er durch preiswertes Öl und Wirtschaftshilfe. Berauscht von der eigenen Bedeutung, empfand sich Chávez als Reinkarnation von Simón Bolívar und dessen Großmachtträumen.

"Für ein paar Sekunden war das ganze Land ein elektrisches, reizgeladenes Schweigen."

Irgendwann bekommt Miguel tatsächlich Besuch von der amerikanischen Journalistin, für die die letzten Worte von Chávez bestimmt sind. Miguel sagt, der Präsident sei schwach und verängstigt gewesen, er habe geweint und gejammert wie ein Normalsterblicher. Aber Chávez, wirft die Journalistin ein, sei doch kein Normalsterblicher gewesen, oder? Darauf gibt der Onkologe Miguel eine knappe Antwort: "Chávez hatte Krebs."

Am 5. März 2013 starb der Präsident. "Für einige Sekunden war das ganze Land ein Schweigen. Ein elektrisches, reizgeladenes Schweigen; ein Abgrund voller Metall, ein offener Buchstabe, ein Schrei kurz vorm Bluten." In einem Anfall von Panik versteckt Miguel das Handy mit den Videos in einem Rucksack, der ihm nicht gehört. Plötzlich ist der Rucksack verschwunden, weil ein kleiner Junge mit seiner Internet-Freundin, einem zehnjährigen Mädchen, nichts wie weg wollte.

Irgendwann werden sie das Handy entdecken und die beiden Videos anschauen. Vielleicht hat Miguel der Journalistin etwas verschwiegen. Egal, eine ganz junge Generation wird entscheiden, was mit den letzten Worten von Chávez noch anzufangen ist.

Alberto Barrera Tyszka: Die letzten Tage des Comandante. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Verlag Nagel & Kimche, München 2016. 256 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 05.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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