Straßenfotografie:Fall für den Fotografen

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Perfekte Augenblicke: Ein Band von David Gibson versammelt die 100 besten Bilder von Fotografen aus über 50 Ländern. Eine Auswahl aus dem vielfältigen Dickicht der Straßenfotografie unserer Tage.

Von Alex Rühle

Solch einen Titel muss man auch erst mal wagen. "Street Photography. Die 100 besten Bilder". Wer glaubt, solch ein Ranking festlegen zu können, ist entweder größenwahnsinnig. Oder er hat tatsächlich sehr viel Ahnung. Vielleicht trifft auf David Gibson beides zu. Der Brite ist selbst Straßenfotograf, Mitbegründer des ersten internationalen Street-Photography-Kollektivs In-Public und Autor des "Street Photographer's Manual", in dem er 2014 eine so rudimentäre wie strenge Ästhetik der Street Photography skizzierte: Für Gibson ist der Straßenfotograf ein Jäger im semiotischen Dschungel der Städte, einer, der den richtigen Moment einfängt, ohne ihn je selbst zu beeinflussen oder zu inszenieren: "Es wird nie inszeniert, denn der Kern eines solchen Fotos ist die Tatsache, dass es echt ist."

Man kann da zart ins Grübeln kommen: Ob Henri Cartier-Bresson bei all seinen meisterhaft komponiert wirkenden Motiven einfach nur auf den Auslöser drückte? Und was ist mit Vivian Maiers hochartifiziellen Straßenfotografien? Für Gibson wären das wahrscheinlich Straßenporträts, aber es ist vielleicht auch nicht so wichtig, wie man Maiers oder Cartier-Bressons Bilder nennt, denn Gibson beschäftigt sich in seinem neuen Buch ausschließlich mit den Fotografen unserer Tage. In dem Prestel-Band versammelt er 100 Fotos aus mehr als 50 Ländern, jeweils mit einem sehr instruktiven Text, in dem er den Fotografen und seine Arbeit porträtiert. Der Text gibt eine umfassende Einordnung des Werkes, ausgesucht hat Gibson dann jeweils ein Bild. Schwere Männer an einer Bushaltestelle in Lissabon. Gespensterhaft wehende Plastikfolien an einer Wäscheleine in Russland, eine Frau in Tokio, beim Warten an der Fußgängerampel. Ihr schwarz-gelber Rock korrespondiert auf fast schon unheimlich perfekte Weise mit den gelb-schwarzen Fußgängerstreifen des regenglänzenden Asphalts. Der Fotograf Shin Noguchi, der sich auf seiner Homepage zu "Schönheit und Humanismus im Fluss des Alltags" bekennt, was Gibson gefallen dürfte, schrieb diesem in Bezug auf sein Bild, er habe im Moment des Belichtens gedacht: "Gott der Fotografen, hab Dank für dieses schöne Geschenk, für diesen perfekten Augenblick!"

Unser Bild stammt aus Thailand, von Tavepong Pratoomwong, der eigentlich gerade einen Taxifahrer dabei fotografierte, wie er sich mitten auf der Straße Medizin ins Auge tröpfelte. Dann aber sprang ein Fußgänger ins Bild, der ihm die Show stehlen wollte, eine Show, die es bis zu dem Moment gar nicht gegeben hatte. Der Mann wollte Michael Jacksons Moonwalk imitieren, beugte sich dabei aber so weit vornüber, dass er das Gleichgewicht verlor. Dieses doppelte Scheitern - dem Fotografen wird sein ursprüngliches Bild zerstört, der Mann fällt, statt zu tanzen - ergab dann das viel schönere Bild. Um John Lennon zu paraphrasieren: Street Photography ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.

Street Photography. Die 100 besten Bilder. Hrsg. von David Gibson. Prestel Verlag, München 2017. 208 Seiten, 29,95 Euro

© SZ vom 25.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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