Strafvollzug:Höllenhaft

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Satellitenbild eines amerikanischen Knastes - hier herrschen andere Gesetze. (Foto: DigitalGlobe)

Warum stirbt ein deutscher Diplomat in einem Knast des Staates New York an einer Überdosis? Am Eingangstor amerikanischer Gefängnisse endet die Zivilisation. Westeuropäer sind willkommen. Als Opfer.

Von Daniel Genis

Westeuropäer landen selten in amerikanischen Gefängnissen. Osteuropäer dagegen häufiger, und sie kommen auch besser klar. Die Gefängnisse werden "Besserungsanstalten" genannt, aber das ist ziemlich irreführend.

Ich verbrachte nach meinem Studium ein Jahrzehnt in zwölf Gefängnissen des Staates New York. Der Grund war, dass ich nach zwei Jahren Heroinabhängigkeit im August 2003 eine sehr schlimme Woche hatte. Die Presse nannte mich den "reumütigen Räuber" wegen meiner Zerknirschung schon während der Überfälle. Der Richter gab mir zwölf Jahre Zeit, darüber nachzudenken. Nach der Mindesthaftzeit von 123 Monaten wurde ich entlassen.

Die Männer aus Frankreich, Deutschland, Irland und Großbritannien, die ich im Gefängnis kennenlernte, waren die traurigste Kohorte im ganzen System. Schon allein zahlenmäßig gingen sie unter. Asiaten hatten ihre eigene Nische, um eine breite Front zu zeigen, vergaßen die Koreaner und die gefürchteten Fujianesen, dass sie sich gegenseitig hassten. Gangs aus Chinatown, die sich sonst beschossen, sobald sie sich sahen, aßen nun zusammen. Auch Osteuropäer fanden leicht einen komfortablen Platz in der Hackordnung. Latinos waren zahlenmäßig die zweitgrößte Ethnie im Gefängnis, sie hatten ein starkes und tragfähiges Netzwerk. Die Insassen aus dem Mittleren Osten waren generell Muslime, sie wurden daher von den zahlreichen Islam-Konvertiten verehrt, und die waren schwarz. Also die Mehrheit. Das half.

Der Pariser Tierarzt Alexandre, der mein Freund wurde, hatte eine härtere Zeit. Er wollte nicht in seiner Muttersprache mit Haitianern und Afrikanern sprechen. Die konnten ihm zwar auf Französisch antworten, aber sie taten das in seiner Wahrnehmung auf barbarische Weise - und außerdem betrachteten sie ihn als wandelndes Portemonnaie. Er tolerierte lieber mein Schulfranzösisch, aber er hatte auch nicht viel Auswahl. Es gab keinen Franzosen, dem er seine Geschichte hätte erzählen können. Nach seiner Darstellung hatte Alexandre selber die Cops gerufen, nachdem eine Schere, mit der eine erzürnte Frau auf ihn losgegangen war, am Ende in ihrer eigenen Brust steckte. Die Handschellen kamen so überraschend wie ihr Tod, behauptete er.

Im amerikanischen Gefängnis ist die Bürgerrechtsära noch nicht so richtig angekommen und Rassentrennung ist die Regel. In seinem ersten Gefängnis hielt sich Alexandre an die Weißen, so wie das von ihm auch erwartet wurde. Nach etwa der Hälfte der zwanzig Jahre, die er absitzen musste, bevor er nach Frankreich überstellt werden würde, war er immer noch schutzlos wie ein Fisch außerhalb des Wassers. Außer seiner Hautfarbe hatte Alexandre nichts gemeinsam mit Skinheads und Drogensüchtigen, die sich über seinen Akzent lustig machten, aber ihre eigene Sprache mit mehr Fehlern schrieben als er seine dritte. Glücklicherweise war seine zweite Sprache Spanisch. Er sprach es so perfekt, dass er als Hispanic durchging. Nach einem Gefängniswechsel gab sich Alexandre als hellhäutiger Mexikaner aus, der kaum Englisch spricht. Es ist klug, seine Identität zu leugnen. Mexikaner hatten ihren eigenen Tisch.

Für die Nazis hätte Matthias so etwas wie ein Führer sein können. Aber er trug Sandalen

Alexandre war hier extrem fehl am Platz. Jeder andere Westeuropäer hatte das gleiche Problem. Ich auch. Klassenzugehörigkeit ist einfach zu abzulesen, und bei mir wurde "obere Mittelklasse" herausgeschnüffelt, als ich zum ersten Mal den Mund aufmachte.

Die allermeisten Westeuropäer, die nach Amerika kommen, sind gebildet. Mehrsprachige Bohemiens oder Fachleute. Mit diesem Hintergrund sind sie in amerikanischen Gefängnissen vollkommen deplatziert, und dann sprechen sie auch noch mit Akzent. Fremdenfeindlichkeit ist ausgeprägter, je weiter du die Bildungs- und Einkommens-Skala heruntergehst.

Einen Schlupfwinkel suchen aber alle. Knast ist für jeden hart. Einige finden in der Bibliothek Eckchen, in denen sie sich die Welt vom Hals halten können. Andere dealen aus solchen Ecken heraus mit Drogen. Der Kulturschock, den Europäer durchmachen, ist trotzdem jenseits der Vorstellungskraft eines Amerikaners. In meinem ersten Jahr sah ich das Entsetzen in den Augen eines Deutschen, als beim Lunch der Mann gegenüber seine Spaghetti mit bloßen Händen aß. Ich hatte keine Gelegenheit, dem Deutschen Trost zuzusprechen. Er war eine Woche später tot.

Matthias Gueldner war wegen Brandstiftung zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Trotz der psychischen Probleme, die er offensichtlich hatte. Doch vor amerikanischen Gerichten ist Geisteskrankheit ein schwaches Verteidigungsargument, vor allem wenn man als Angeklagter wie Gueldner eine Karriere bei der Uno im Lebenslauf stehen hat, einigermaßen wohlhabend und deutscher Staatsbürger ist, der Hakenkreuze an die Türen eines jüdischen Nachbarn gemalt und sie dann angezündet hat.

Heute listet eine Website des Staates New York Gueldner als "entlassen". Seine Leiche wurde an einem kühlen Novembermorgen des Jahres 2004 gefunden.

Viele weiße Häftlinge hatten vor ihrer Haft keinen Schimmer von Rassenfragen und Nazi-Ideologie. Im Knast aber werden sie oft zu Rassisten - eine Reaktion auf die Tatsache, dass sie unter den anderen Insassen eine Minderheit darstellen. Dieser "Rassenstolz" manifestiert sich dadurch, dass sie einander mit "Sieg Heil" grüßen, Symbole des Dritten Reiches auf ihre Körper tätowieren und sogar den "Führergeburtstag" feiern. Einer, dem ich mal ein Buch empfahl, lehnte das ab mit der Begründung, er habe seine Lektüre ganz auf "Mein Kampf" beschränkt. Bei den meisten handelt es sich um einfache Drogensüchtige. Der einzige Gebildete, den ich aus dieser Ecke getroffen habe, wollte gleich mein bester Freund werden, sogar ungeachtet der Tatsache, dass ich Jude bin. Ich war einfach, der einzige, mit dem er sich sinnvoll unterhalten konnte.

Mit Matthias Gueldner gab es nun einen echten Deutschen. Die anderen lernten die Sprache der Nazis mit Kassetten aus der Leihbibliothek. Er saß wegen eines Hassverbrechens gegen einen Juden und nicht wegen irgendeiner Drogensache wie die meisten dieser "Arier". Gueldner brauchte Hilfe und er hätte ihnen das Horst-Wessel-Lied beibringen können.

Sie hätten das schönste Leben haben können miteinander. Aber er trug Sandalen. Und für dieses Verbrechen grenzten sie ihn aus, seine Schuhe galten als weibisch. Der verlorene Deutsche begriff nicht, warum ihm der Ruf anhing, ein Homosexueller zu sein, und warum die Weißen ihn nicht unter sich haben wollten.

Er wurde zur Zielscheibe von Quälereien: Nachdem er einmal ein paar Anfeindungen über sich hatte ergehen lassen (das Testen fängt im Kleinen an: jemandem das Essen wegnehmen, ihn mit Schimpfworten rufen und so weiter), war das Blut im Wasser und die Haie kreisten. Er brauchte eine Zuflucht.

Seine Identität zu wechseln wie mein cleverer Franzose das tat, ging da schon nicht mehr, also unternahm er den nächsten logischen Schritt für einen Antisemiten. Matthias Gueldner konvertierte zum Islam. Die Sprache des Korans konnte er ohnehin schon. Nur ist dieser Glaube in amerikanischen Gefängnissen der Ausdruck eines schwarzen Nationalismus und Zeichen von Gangzugehörigkeit. Der Begriff lautet "Prislam". Gueldner kam vom Regen direkt in die Traufe.

Ein algerischer Imam, der für die Gefängnisbehörde arbeitete, erzählte mir mal, dass er seine eigene Glaubensgemeinschaft fürchtete. Er bezeichnete sie als Gang. Weil er ein Angestellter ihrer Unterdrücker war, wählten sich die Muslime einen Mithäftling als ihren eigenen Imam. Die Hierarchie umfasste sogar einen Sicherheitschef, einen Schatzmeister und Soldaten. Jedes Gefängnis hatte so eine Struktur. Die Moslems, zu denen meistens Schwarze und ein paar Latinos gehörten, verhandelten und bekriegten sich mit den Bloods, den Latin Kings und anderen Gangs. Andere Glaubensrichtungen funktionierten nicht so, sie hielten sich raus.

Der Islam ist in amerikanischen Gefängnissen eine Sache für sich. Der Deutsche wusste das nicht, und die Konsequenzen folgten auf dem Fuß. Gueldner wurde in die muslimische Gemeinschaft aufgenommen, aber sein Los war es, nicht gleichzeitig in die Gang integriert zu werden. Trotzdem wurde sein Geld gern in Anspruch genommen. Als Konvertit wurde er noch mehr zur Hassfigur für die Weißen, aber wenigstens verringerte er die Zahl seiner Peiniger ein bisschen. Sein Mittelklassewohlstand - im Gefängnis ist das ein Vermögen - diente dazu, einige der härteren Moslems zu "unterstützen", und niemand nahm ihm je wieder das Essen weg. Gueldner bekam Medikamente gegen seine psychischen Probleme, aber es ging ihm trotzdem immer elender. Verzweifelt und ohne irgendeine Erfahrung damit zu haben, wandte er sich den Drogen zu.

Wenn ältere Häftlinge auf den Tod zugehen, kommen sie in Sterbestationen

Seine Moslems versorgten ihn mit überteuertem Morphium. Er konnte so viel davon bekommen wie er wollte, auf Kredit, und es wurde ihm geliefert. Er bezahlte Wucherpreise, und er brauchte auch immer mehr. Schon Gueldners Morgendosis hätte einen Ungeübten töten können. Ob er sich nun vor dem Gefängnis in die Umarmung der Drogen flüchtete, ob er damit seine Krankheit behandeln wollte oder ob er einfach unersättlich war: Die Mengen, die er kaufte, brachten irgendwann die Drogenwirtschaft im Gefängnis aus der Balance. Andere Insassen bekamen nichts mehr oder sollten dafür so viel bezahlen wie der Deutsche, der draußen jemanden hatte, der ihn täglich mit Geld versorgte, ohne darüber nachzudenken. Es gab sogar eine Verschwörung von Süchtigen, um diesen Walfisch los zu werden, aber die natürliche Lauf der Dinge kam ihnen zuvor. Die Gans, die goldene Eier legte, war am Ende überfüttert worden.

Die Gefängnisverwaltung sprach von Selbstmord, während unappetitliche Websites unterstellten, dass es ein zionistischer Anschlag war. Auf dem Gefängnishof habe ich gehört, dass es 30 Pillen brauchte, um ihn umzubringen, 900 Milligramm Morphium. Es hat den Deutschen hundert Dollar gekostet zu sterben. Die Morphiumpreise kamen wieder ins Lot, noch bevor er beerdigt war. Die Nachfrage sank wieder auf normales Niveau.

Niemand erinnerte sich seiner mit besonderer Zuneigung, und heute findet man ihn nur noch als Namen auf der Liste der Gefallenen im Rassenkampf. Aber es ist besser, sich auf solchen Websites nicht zu lange aufzuhalten, sonst könnte man die Verklärungen noch für voll nehmen: Zum Beispiel dass Matthias Gueldner Arabisch mit einem sudanesischen Akzent sprach, der so fein war, dass man sogar sagen konnte, in welchem Viertel von Khartoum er die Sprache gelernt hatte.

Man muss Matthias Gueldner nicht gemocht haben (die Neonazis taten es nicht, und seine muslimischen Glaubensbrüder verkauften ihn an den Tod), um zu erkennen, dass die Gesellschaft vor ihm versagt hat. So unerfreulich seine Taten waren, acht Jahre Knast sind eine armselige Antwort darauf. Wenn UN-Diplomaten Türen in Brand setzen und gehässige Botschaften draufschmieren, sind sie wahrscheinlicher eher krank als kriminell. Was Gueldner erlebte während seines kurzen Aufenthaltes im amerikanischen Gefängnissystem, zeigt, welche Herausforderung es für Europäer darstellt.

Vermutlich sind die Verhältnisse in den meisten Gefängnissen der Welt wesentlich schlimmer, aber in der Dritten Welt kann man sich Komfort wenigstens kaufen, während in Europa dieser Fall wahrscheinlich in einer Klinik geendet hätte. Der Barbarei ausgerechnet in der reichsten Nation von allen zu begegnen, das hat Gueldner fertig gemacht. Er trat einem Stamm zufällig bei und wurde von einem anderen zurückgewiesen. Das simple Anderssein machte ihn zur Beute. Gueldner war ein Opfer von Atavismen mitten in der Supermacht der Welt. Sein Ende war vielleicht die Zuflucht, die er gesucht hat - niemand lästert über seine Sandalen oder isst Nudeln mit den Händen in seinem Grab.

Ich habe nicht viele westeuropäische Staatsbürger im Gefängnis getroffen, sie lassen sich fast an einer Hand abzählen. Ein Ire, der zwanzig Jahre dafür absitzen musste, dass nach einem Sex-Spielchen ein junges Mädchen erdrosselt zurückgeblieben war, verbarg sich so vollständig in seiner Zelle, dass ich nicht mehr als das über ihn erzählen kann. Ein holländischer Matrose, der eine New Yorker Prostituierte getötet hatte, starb, bevor ich Gelegenheit hatte, Bekanntschaft mit ihm zu machen. 25 Jahre bis lebenslang ist die Standard-Strafe für Mord im Staat New York. Den ersten Antrag des Holländers auf vorzeitige Haftentlassung wies die Bewährungskommission zurück, und bis zur zweiten Möglichkeit schaffte er es dann schon gar nicht mehr. Das Intervall beträgt zwei Jahre und es gibt keine Garantie darauf, jemals wieder rauszukommen, wenn das Urteil auf lebenslang lautet.

Strafen, die über die menschliche Lebenserwartung hinausreichen, werden "lights-out" genannt. Für ältere Häftlinge wie den Seemann aus den Niederlanden hat New Yorks Justizvollzug fünf Einrichtungen, die auf Palliativmedizin spezialisiert sind. Das sind Krankenhäuser, in denen die Insassen sterben können, um zum Schluss "entlassen" zu werden.

Europäer erschrecken oft über die Länge amerikanischer Haftstrafen und über die Zahl der Inhaftierten. Auf 100 000 Einwohner kommen in den USA 716 Häftlinge, in Deutschland sind es 79. Die Vorstellungen, die Europäer haben, basieren auf den Verhältnissen zu Hause und sind ziemlich falsch. Dieses Missverständnis hat bittere Konsequenzen.

Ich wurde festgenommen, als ich mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig fuhr. Bei der Vorladung zum Gericht fielen mir zwei Mädchen aus der Menge auf. Sie waren über ein verlassenes Grundstück spaziert, um die Patina einer alten Mauer zu fotografieren. Nun gingen sie davon aus, dass der Richter das Missverständnis gleich einsehen werde, denn der Polizist, der ihnen eine Strafe für widerrechtliches Betreten aufgebrummt hatte, war nicht dazu bereit gewesen. Während der Gerichtsdiener keifte, empfahl ich ihnen, dass sie die Strafe lieber einfach bezahlten. Sie hatten auch an mich zwei Fragen. Warum wurden sie so rüde behandelt? Und warum waren die meisten der anderen Beschuldigten, die mit uns warteten, schwarz und der Rest Hispanics?

Ich antwortete mit einer Gegenfrage. "Könnt ihr Spaghetti mit den bloßen Händen essen?" Wir lachten nervös.

Der Autor, Jahrgang 1977, ist Journalist und Schriftsteller und lebt in Brooklyn. Er saß wegen fünf Raubüberfällen im Gefängnis. Aus dem Englischen von Peter Richter.

© SZ vom 23.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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