Stefan Kiesbyes Buch "Hemmersmoor":Heimkehr ins Teufelsmoor

Lesezeit: 3 min

Aberglauben, Dorfintrigen, Inzest und Lynchjustiz: Es fehlt nicht am Grusel-Stoff in Stefan Kiesbyes "Hemmersmoor". Doch in der dubiosen Zwielichtzone verliert der Autor seine Linie.

Ulrich Baron

Dass man gerade auch in der Provinz Leichen im Keller hat, bildet den unerschöpflichen Fundus zahlloser Heimkehrergeschichten, deren Helden und Heldinnen nach Jahren an den Ort ihrer oft unerfreulichen Jugenderlebnisse zurückkommen. Das erzeugt Spannungen, doch richtig spannend wird es erst, wenn sich ein großes, ein schreckliches Geheimnis andeutet, das all die schmutzigen kleinen Geheimnisse miteinander verbindet und erklärt. Zur Enthüllung eines solchen Gehimnisses ist der Heimkehrer besonders berufen, weil er ein einstmals Eingeweihter ist, den seine Jahre fern der Heimat gleichwohl zum Fremden gemacht haben, und er sich dem Geflecht gegenseitiger Rücksichtnahmen und unausgesprochener Schweigegebote entzogen hat.

Das Böse lauert auch dort, wo man sich zuhause fühlt: Stefan Kiesbyes Roman "Hemmersmoor" thematisiert die Schrecken des provinziellen Daseins. (Foto: Klett-Cotta-Verlag)

So kehrt auch Christian Bobinski nach Jahrzehnten in sein Dorf im norddeutschen Teufelsmoor zurück und weckt zunächst große Erwartungen. Wie sein 1966 an der Ostsee geborener Autor Stefan Kiesbye war er als junger Mann in die USA ausgewandert, doch der Tod seiner Frau und seiner Mutter hätten ihm Anlass gegeben, in jenes enge Haus heimzukehren, "in dem mein Vater und meine Schwester Ingrid starben, als ich noch ein Schuljunge war".

Wenn schon im zweiten Satz der Rahmenerzählung von "Hemmersmoor" eine solch lakonisch mysteriöse Mitteilung folgt, gerät einem der erste leicht aus dem Blick. Der aber lautet: "Die Zeit spielt keine Rolle." Leider. Hatte der Prolog noch eben vier ehemalige Jugendfreunde bei der Beerdigung einer Altersgenossin auf einem Gutshof vereint, so springt der Roman nun weit in die Vergangenheit zurück. Deren Geheimnisse geben drei der Beerdigungsgäste als wechselnde Erzähler preis, und gegen Ende wird auch die Beerdigte selbst sich zu Wort melden.

An Stoff fehlt es ihnen nicht. Neben Aberglauben, Fremdenfeindlichkeit, Dorfintrigen und Inzest hat "Hemmersmoor" auch Kannibalismus und Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und -missbrauch, Lynchjustiz, Kindstötung, Kinder-, Vater- und Geschwistermord, Mord aus Eifersucht und aus purer Bosheit gleich dutzendfach zu bieten. Kiesbyes Erzähler berichten darüber als Mitwisser, Täter und Opfer so ungerührt, als sei all dies die normalste Sache der Welt. Und die Spannung, die durch den Heimkehrer aufkommen könnte, implodiert, weil Christian sich umgehend in den Erzählerchor einfügt, der zwar aus unterschiedlichen Perspektiven, aber mit einer einzigen und für die niedersächsische Provinz erstaunlich eloquenten Stimme spricht.

Die Schrecken der Provinz

Kaum eingeführt, löst sich so nicht nur die Differenz von Außenseiter- und Insiderperspektive, sondern auch die zwischen Gegenwart und Vergangenheit gleich wieder auf. Indifferenz zeigt Kiesbyes Roman auch gegenüber der Trennung von naturalistisch gezeigter Provinzbrutalität und übernatürlichen Elementen, aus denen die phantastische Literatur Spannung und psychologische Funken schlagen würde.

Auch der Horror eines Stephen King funktioniert ja als Vergrößerungs- und Vergröberungsglas, das die Schrecken eines provinziellen Daseins, wenn auch grotesk verzerrt, enthüllt. Doch wenn Christian in "Hemmersmoor" seine Schwester ermordet, weil er einem diabolischen Schausteller deren Seele versprochen hat, bleibt unklar, ob hier wirklich der Teufel im Spiel ist, oder ob ein dummer kleiner Dorfjunge nur einen miesen Scherz auf schreckliche Weise missverstanden hat. Dass diese Frage nicht gestellt wird, rückt Kiesbyes Roman in jene dubiose Zwielichtzone, die man hierzulande inzwischen gerne als "Mystery" bezeichnet - eine Melange aus Kriminalroman und Phantastik, deren paradoxe Mischung der genres nur selten mitreflektiert wird.

Im Englischen aber ist "Mystery" eine von mehreren Bezeichnungen für den klassischen Krimi, und der deckt Geheimnisse auf, aber plaudert sie nicht aus. Der Detektiv dringt als unerwünschter Fremder in die Sphäre der Rechtsbrecher ein, schließt sie mit der des Rechts kurz und schafft damit explosive Situationen. Am Ende steht dort Aufklärung und oft auch Desillusionierung.

Bei Kiesbye aber hofft man vergeblich, dass noch eine Erklärung dafür geliefert werden möge, warum Hemmersmoor so ist, wie es ist, und warum Heimkehrer hier wieder werden, was sie waren. Außer einem raunenden und matten Hinweis auf ein ehemaliges NS-Lager folgt nichts dergleichen, und das reicht nicht. Was bleibt, ist ein schlichter Schauerroman, der Ansätze zu etwas Anspruchsvollerem markiert, aber nicht verfolgt.

STEFAN KIESBYE: Hemmersmoor. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 208 Seiten, 17,95 Euro.

© SZ vom 10.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: