Stadtporträt:Die Schöne am Rand

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Nowosibirsk? Nowosibirsk! Besuch in einer Stadt, die für die Musik und Kultur lebt und geniale Musiker hervorgebracht hat.

Von Helmut Mauró

Viele Künstler und Wissenschaftler sind nach Ende der Sowjetunion in den Westen gezogen, aber die, die in Nowosibirsk geblieben sind, sind stolz auf ihre Stadt. Kultur spielt eine wichtige Rolle, erfüllt gerade in politisch wackligen Zeiten eine wichtige identitätsstiftende Funktion. Die Absetzung des Opernintendanten Boris Mesdritsch wird noch immer heftig diskutiert: Die orthodoxe Kirche hatte ihn aus dem Amt gedrängt, weil ihr eine "Tannhäuser"-Inszenierung nicht gefiel. Nun ist man traurig und wütend in der Stadt, dass "eine kleine Gruppe militanter Christen im Schulterschluss mit Faschisten" so starken Einfluss gewinnen konnte.

Aber man weiß hier natürlich auch, dass Sibirien nicht der Nabel der Welt ist. Die Revolution von 1914 fand sich hier erst sieben Jahre später ein, generell geht alles langsamer als in Moskau, man ist nicht getrieben.

Wo sollte man auch hin. Der prächtige Hauptbahnhof fühlt sich an wie ein Museum, Palmen stehen in großen Kübeln neben allerlei Mobiliar - alles natürlich unter einer gigantischen Kuppel; hinter Säulen sitzen Aufseher an kleinen Tischchen, ein paar Menschen stehen vor schmucken Schaltern. Fahrgäste? Nur eine orangen-bunte digitale Anzeige erinnert an die Gegenwart - der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts.

Es gibt nur einen Ort, an dem es noch ruhiger ist, und das ist dann tatsächlich das Kunstmuseum, das auf zwei Etagen die gesamte Kunstgeschichte seit der Renaissance in wenigen Bildern repräsentiert. Man muss nur wenig übertreiben, um zu behaupten: Bis auf vielleicht fünf Bilder des nicht enden wollenden russischen Impressionismus, ein Porträt aus dem 19. Jahrhundert und drei ältere Ikonen gibt es nichts zu sehen, was Bob Ross nicht zu später Stunde auf die Leinwand zaubern könnte. Während des Zweiten Weltkriegs lagerten hier die Schätze der Eremitage und der Moskauer Museen; danach hat man alles wieder in die Transsibirische Eisenbahn gepackt und fortgeschafft.

Auch die Moskauer und St. Petersburger Musiker waren damals ausgelagert worden und bespielten das staunende Nowosibirsker Publikum, unterrichteten einen begeisterten Musikernachwuchs. Und was ist davon geblieben? Vier Konservatorien, eine berühmte Ballettschule, ein bis heute anhaltender Ehrgeiz, den renommierten Anstalten in Moskau und St. Petersburg Paroli zu bieten. Was immer wieder mal eindrucksvoll gelingt.

Der legendäre Zakhar Bron unterrichtet nur Wunderkinder

Eine schon legendäre Figur in diesem Zusammenhang ist Zakhar Bron, ein Schüler von Boris Goldstein am Moskauer Gnessin-Institut sowie von Igor Oistrach und vielleicht der größte Geigenpädagoge seiner Zeit. 1974 bis 1988 unterrichtete er in Nowosibirsk, bevor er mit seinen beiden Star-Schülern Vadim Repin und Maxim Vengerov dem Ruf nach Lübeck folgte, wo er an der kleinsten Musikhochschule Deutschlands unterrichtete; auch David Garrett hat 1990 bis 1991 bei ihm gelernt.

Vor einigen Wochen kehrte Bron noch einmal zurück - für das Transsibirische Art-Festival, das sein Schüler Repin leitet. Es war eine triumphale Heimkehr, hätte man sagen können. Aber das wäre untertrieben gewesen, weil Bron wie jeder Künstler den Applaus liebt, sodass man ihn hier, wie sonst nur noch selten, als Solisten auf seiner Guadagnini erleben konnte. Abseits der Bühne aber wirkt dieser Mann völlig uneitel, weshalb es eitle, früh vollendete Schüler auch schwer bei ihm haben.

Dabei scheint er nur Wunderkinder und Höchstbegabte zu unterrichten, die er dann zu fast schon perfekt unvollendeten, zerbrechlich menschlichen Künstlern ausbildet: In der erst vor zwei Jahren in Nowosibirsk eröffneten "Arnold Kats State Concert Hall", benannt nach dem Gründer und jahrzehntelangen Leiter des hiesigen Symphonieorchesters, konkurrierten die sagenhaften Elli Choi und Mone Hattori um den Titel japanischer Wunder-Teenie mit Tendenz zu Höherem. Beide zeigten auf ihren Guarneris in Virtuosenstücken wie der Carmen-Fantasie von Franz Waxman oder der Rossini-Fantasie von Heinrich Wilhelm Ernst höchstes geigerisches Niveau.

Die Hauptereignisse des Festivals konzentrierten sich allerdings auf großvolumige Orchesterkonzerte. Das stalinistische Opernhaus der Stadt ist ja eine Perle der Baukunst. Ursprünglich war es als Mehrzweckarena geplant, urplötzlich entschied man sich in den Dreißigerjahren dann doch für die eindeutige Baubestimmung als Opernbühne. Was zu dem kuriosen Hybrid eines weitläufigen Amphitheaters mit knapp 2000 Plätzen unter einem Zylinder mit aufgesetzter Kuppel von 60 Metern Durchmesser und 35 Metern Höhe geführt hat, unter der das komplette Moskauer Bolschoi-Theater Platz hätte.

Im Eingangsbereich noch streng konstruktivistisch, mit weißen Quadratsäulen und in schmuckloser Schlichtheit, im Inneren mit klassizistischem Figuren- und Ornamentwerk im stalinistischen Empire-Stil. Um einer funktionierenden Akustik willen hat man dann noch die Kuppel mit einer flachen Decke verblendet, sodass große Orchesterkonzerte gut möglich sind.

So erlebte man nun eine seltene Vergleichsschau der beiden Orchester von Nowosibirsk und einem hervorragenden Ural Philharmonic Orchestra unter Leitung von deren Chefdirigenten Dmitry Liss. Wo die Nowosibirsker Philharmoniker unter Gintaras Rinkevicius mit jedem Forte den Saal zu sprengen schienen - unter Leitung von Leonard Slatkin klang das gleiche Orchester schon etwas milder -, konnte man bei Liss erleben, wie ein guter Dirigent den Orchesterklang der spezifischen Saalakustik anzupassen weiß und ein Maximum an Tonentfaltung, Klangfarben und dynamischen Abstufungen herausholt. Der deutsch-französische Pianist Jean-Ives Thibaudet fügte sich in Maurice Ravels Klavierkonzert bruchlos ein.

Er war, mit Rudolf Buchbinder, einer der wenigen Gastmusiker aus dem Westen. Aber für westliche Besucher waren die russischen Künstler ohnehin allemal spannender, weil man diese ja im Westen so gut wie nie zu hören bekommt. Und der Weg nach Nowosibirsk ist nicht mehr so weit wie in den Tagen der Eisenbahn. Vier Flugstunden von Moskau aus sind es aber noch immer.

© SZ vom 29.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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