Staat und Frömmigkeit:Religion im Hinterhof

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"Die Freiheit führt das Volk" von Eugène Delacroix, 1830. Historiker verweisen darauf, dass die Marianne mit entblößter Brust - anders als es dieser Tage Frankreichs Premierminister nahelegte - im 19. Jahrhundert kein Kommentar zu einer bevorzugten Kleiderordnung war, sondern eine nationale Allegorie. (Foto: oh)

Warum streitet Frankreich so erbittert über den Burkini? Und was bedeutet eigentlich Laizismus? Der Hintergrund sind die Kulturkämpfe, die Europa früher schon einmal ausgefochten hat - gegen die katholische Kirche.

Von Gustav Seibt

Geistliche sollen erst predigen dürfen, nachdem sie ein "Kulturexamen" zu Philosophie, Geschichte und deutscher Literatur abgelegt haben. Ihre Predigten werden politisch überwacht. Wer gegen den Staat hetzt, wird verhaftet. In den Gemeinden geschlossene Ehen sollen nicht mehr gültig sein, sondern vom Staat registriert werden. Religiöse Umzüge gelten als "Ruhestörung", gar als Herausforderung der Leitkultur. Erhitzte Patrioten dringen mit Holzlatten in Kulträume, um sich mit Betenden zu prügeln. Verdächtiges Schrifttum wird beschlagnahmt. Religiöse Symbole werden aus dem öffentlichen Raum verbannt.

Sind das Maßnahmen heutiger Regierungen gegen islamische Parallelwelten? Man muss Spitzel in die religiösen Gemeinschaften einschleusen, zu verdächtig sind sie. Sagt das der Verfassungsschutz? Man sollte die Kinder dieser Frommen in staatliche Schulen schicken, um ihnen moderne Staatsgrundsätze und fortschrittliche Wissenschaft beizubringen - wer will das? Heinz Buschkowski und Monika Maron? Die geistlichen Gerichte sind ein Ärgernis, niemand weiß, was in ihnen vorgeht - sagt das Necla Kelek? Sogar eine eigene Presse haben diese gefährlichen Frommen - wer sind ihre Finanziers? Ein fernes Priesterregime im Ausland steuert sie!

Einst kamen die Fatwas aus Rom, und der Staat kämpfte gegen die katholische Kirche

Nein, es geht bei all diesen Maßnahmen, Unterstellungen und Konflikten nicht um den Islam in den heutigen westlichen Gesellschaften, sondern um die katholische Kirche in den Nationalstaaten des späten 19. Jahrhunderts. In der Aufzählung kann man Maßnahmen von Bismarcks "Kulturkampf", der italienischen Politik gegen den Papst in Rom sowie französische Polemiken gegen die starke Stellung der Kirche in der Gesellschaft wiedererkennen. Alles vor dem Jahr 1900.

Die entsprechenden Bestimmungen heißen "Kanzelparagraph", und "Kulturexamen", "Zivilehe", bei Geldfragen "Brotkorberlass". Die damaligen Frontstellungen wurden einerseits mit "Liberalismus", "Wissenschaft", "Nation", "Treue zum Vaterland" umschrieben, andererseits mit "Zurückgebliebenheit", "Reaktion". Die Vorwürfe lauteten auf fehlenden Patriotismus, ja Landesverrat, Herrschaft einer ausländischen Macht - nicht Saudi-Arabien war gemeint, sondern der Papst in Rom. Die reaktionärste, zurückgebliebenste Form des Christentums habe in diesem diktatorischen Kirchenstaat ihr Bollwerk. Wo blieb hier die kritische Lesart heiliger Texte? Es sei Zeit, dass auch katholische Geistliche gezwungen würden, den Fortschritt der theologischen Wissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Nur staatliche Schulen könnten die landesverräterische Indoktrination verhindern!

Solches hörte man im Deutschen Reich und im Königreich Italien nach 1870 - beide Staaten waren gerade erst konstituiert worden - und ebenso in der französischen Republik, deren Entstehung mit der Geburt der beiden anderen Monarchien eng zusammenhing. In allen drei Ländern kam die katholische Kirche unter Beschuss und Verdacht. Sie wurde sie mit Gesetzen verfolgt und reglementiert, es wurden alte Privilegien abgeschafft und neue Verhältnisse zwischen Staat und Religion begründet. Begleitet wurde dieser Umbau von einem ungeahnten Ausbruch an Unduldsamkeit und Illiberalismus, und zwar von Seiten der modernen Staaten, der in krassem Widerspruch zu deren eigenen Verfassungsprinzipien stand.

Es war, so fassen es heute Historiker kühl zusammen, ein Feldzug des Liberalismus, der seine eigenen Grundsätze in Frage stellte, weil der Gegner angeblich so illiberal und zurückgeblieben war. Letzteres stimmte übrigens durchaus. Im langwierigen Aufbauprozess moderner säkularer Staaten seit der Französischen Revolution hat sich die katholische Kirche als hemmende, feindliche Macht betätigt. Die Liste moderner Irrtümer etwa, die Papst Pius IX. 1866 veröffentlichte, übertrifft an Schärfe alle Fatwas heutiger Ayatollahs gegen Meinungs- und Religionsfreiheit. In Italien war der Kampf sogar kriegerisch, denn die Einigung dieses Landes konnte nur um den Preis der Abschaffung des Kirchenstaats gelingen.

In dieser als lebensbedrohlich empfundenen Krise reagierte das Papsttum im Ersten Vatikanischen Konzil mit der Ausrufung der Unfehlbarkeit in Fragen des Lehramtes. Kompromisse mit der Moderne sollten unmöglich werden. Kein Wunder, dass im national gewordenen Rom sogleich ein wilder Kulturkampf entbrannte, mit Schlägereien in den Kirchen, sogar dem zeitweiligen Verbot des Sterbeglöckchens bei Leichenumzügen. Die Pfarrer und ihr Religionsunterricht galten als bedrohliche innere Opposition.

Auch im Deutschen Reich sah man sich von der geistlichen Macht mit Sitz im Ausland herausgefordert. Eine eigene politische Partei bildeten diese Katholiken, die Zentrumspartei - sprach sie nicht ethnische Minderheiten wie Polen und Elsässer besonders an? Wuchs hier nicht ein staatsfeindliches Milieu? Darum Kanzelparagraf und Kulturexamen. Hunderte Priester kamen hinter Gitter, Dutzende Bistümer blieben vakant.

In Frankreich war die Kirche seit Napoleon faktisch verbeamtet gewesen, mit staatlichen Bezügen und Immobilien. Sie unterhielt Schulen und Konvente, zudem eine eigene Presse. Dieses Milieu erwies sich nach dem republikanischen Verfassungsumbau von 1870, den die Niederlage gegen Preußen-Deutschland erzwungen hatte, als reaktionär-renitent, man liebäugelte mit der monarchistischen Opposition. Teile der Kirche unterstützten die antisemitische Kampagne gegen den zu Unrecht beschuldigen Hauptmann Dreyfus. Liberale Publizisten wie Émile Zola schäumten vor berechtigter Empörung.

In Italien erhielten Gläubige von dem im Vatikan eingesperrten Priesterkönig sogar Politikverbot - dabei empfing er selbst täglich Anhänger und Diplomaten aus der ganzen Welt. Eine Provokation für den Parvenü-König und sein Parlament, die sich provisorisch in den geräumten Palästen des Papstes etabliert hatten. Grund genug, die Fahne des Papstes von den wenigen Gebäuden herunterzureißen, an denen sie noch hing.

In Deutschland ging der patriotische Verdacht einher mit der tiefen Überzeugung der protestantisch-liberalen Mehrheitsgesellschaft von ihrer kulturellen Überlegenheit. Katholiken? Die waren undynamisch und bildungsfern, da musste man es mit den ein paar Grundsätzen des Rechtsstaats nicht so genau nehmen, wie übrigens zur selben Zeit auch nicht gegenüber den Sozialisten.

Die Ausgrenzung der Katholiken konnte auf Dauer in Deutschland und Italien nicht aufrechterhalten werden. Bismarcks Kulturkampf endete mit einer glatten Niederlage, so sehen es Historiker heute, sein einziges Resultat war die Stabilisierung eines feindseligen katholischen Milieus mit seiner Zentrumspartei, die als dritte Kraft zwischen den Lagern stabile Mehrheiten im Reichstag verhinderte: ein fatales Handicap bei der Parlamentarisierung vor 1914. In Italien, dem schwierigsten Fall, gelang der Kompromiss mit der Kirche erst 1929 unter dem Diktator Mussolini. Dass dieser überhaupt an die Macht kam, hatte auch mit der Schwäche des antiklerikalen liberalen Staates zu tun, der nur geringen Rückhalt bei der gläubigen Mehrheitsgesellschaft besaß. Hier, mehr als in Deutschland, muss man der Kirche eine massive Mitschuld an der Verschleppung der Konflikte zuweisen, zu schwer fiel ihr der Verzicht auf den Staat des Papstes.

Die französische Lösung war die radikalste - jetzt setzt sie den Muslimen zu

Die französische Lösung war die logischste und radikalste, und sie ist es, die jetzt auch den muslimischen Bürgern des Landes als verpflichtend vorgehalten wird. Dabei zeigt sich allerdings auch ihre praktische Unhandlichkeit. Frankreich trennte Staat und Religion so konsequent wie kein anderer liberaler Staat, und es erfand dafür einen vierten Grundwert zu den drei Idealen der Revolution. Liberté, Egalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) wurden durch die Laicité ergänzt, den Laizismus des Staates.

Der Staat, so verkündete es das Trennungsgesetz von 1905, garantiert Gewissensfreiheit und Ausübung der Religion. Doch erkennt er keinen einzelnen Kult an, noch subventioniert oder bezahlt er ihn. Priester wurden nicht mehr staatlich unterhalten, ihre Gebäude erhielten nicht die Kleriker, sondern die Vereine der Gläubigen aus Staatsbesitz geliehen. Staatlicher Religionsunterricht fand nicht mehr statt, katholische Privatschulen wurden teils geschlossen, teils streng überwacht. Der französische Katholizismus wurde, um es nur leicht übertrieben zu sagen, eine Hinterhofkirche, entweltlicht, geistlich rein, sehr spirituell, nicht zuletzt literarisch auffallend produktiv, aber auch fundamentalistischer als die deutsche und italienische Schwester. An eine christlich-demokratische Partei als ausgleichende Volkspartei wie später in Deutschland und Italien war nicht zu denken. Frankreich blieb polarisiert zwischen links und rechts.

Der Staat sollte eigentlich nur das Zusammenleben der Bürger regeln, nicht das Denken

Noch heute verkündet die französische Verfassung in den ersten Zeilen, unmittelbar nach dem Bekenntnis zur Menschenrechtserklärung von 1789: "Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik." So hoch ist der Verfassungsrang der Laicité. Das Grundrecht der Religionsfreiheit wird durch einfachen Verweis auf die Menschenrechte von 1789 definiert, deren 10. Bestimmung lautet: "Niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, beunruhigt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört." 1789 war diese Bestimmung vor allem ein Minderheitenschutz für nichtkatholische Bekenntnisse. Heute hat sie einen allgemeineren Klang: Damit wird Religion überhaupt zum Randphänomen der Meinungsfreiheit erklärt.

Das ist die europäische Geschichte, in die nun die zugewanderten Muslime, die kaum wissen, wie ihnen geschieht, eintreten sollen. Überall werden Dramen reinszeniert, die eigentlich schon abgetan waren: Der Liberalismus droht wieder zu einer Norm mit illiberaler Praxis zu werden, wie schon einmal. Denn auch heute zeigt sich die Versuchung des liberalen Staates, nicht nur das Zusammenleben der Bürger zu regeln, sondern auch ihr Denken, ihre Weltanschauung, ihr privates Verhalten.

Die französischen Streitigkeiten um Frauenkleider im öffentlichen Raum - die Freiheit habe nackte Brüste, verkündete soeben Premierminister Valls mit Verweis auf die Ikone von Eugène Delacroix - stellen die Alternative im Verständnis der Laicité: Will man sie als staatliches Regelwerk oder als Verhaltenskodex der Bürger? Erstrebt man den öffentlich ungläubigen, bestenfalls im Hinterhof des Gewissens religiösen Citoyen - oder hält man es für wünschenswert, dass es muslimische Demokraten gibt? Nur wenige glaubten schon im 19. Jahrhundert, dass es einmal christliche Demokraten geben könne, und doch ist es so gekommen. Das ist das nächste und bessere Kapitel, das wir jetzt nachspielen sollten.

© SZ vom 03.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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