SS-Vergangenheit:Sprechen und verschweigen

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Der Romanist Hans Robert Jauß hat lange seine SS-Vergangenheit verschwiegen. Eine Frage von Schuld und Scham.

Gäbe es Geigerzähler für das Messen affektiver Energieströme, sie hätten weit ausgeschlagen im überfüllten Saal Germaine Tillion des Centre Marc Bloch in Berlin, das als deutsch-französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften firmiert, sich aber zunehmend auch den Geisteswissenschaften widmet. Am Dienstag hatte es zu einer "Buchpräsentation mit Filmvorführung und Diskussion" unter dem Titel "Der Fall Jauß" geladen.

Der Romanist Hans Robert Jauß, der im Dezember 1921 geboren wurde und Anfang März 1997 starb, hat noch selber erlebt, wie seine steile Karriere bei der Waffen-SS zwischen 1939 und 1945 aus dem Dunkel, in dem er sie gern belassen hätte, hervortrat. Im Publikum in Berlin saß nun der amerikanische Romanist Earl Jeffrey Richards, der seit 1995 in mehreren Aufsätzen versucht hatte, das Dunkel zu lichten. Und auf dem Podium saß der französische Philologe und Archäologe Maurice Olender, der 1996 für ein Dossier der Zeitung Le Monde über deutsche Geisteswissenschaftler im Nationalsozialismus ein Interview mit Jauß geführt hat.

2014 beauftragte die Universität Konstanz, an der Jauß von 1966 bis 1987 gelehrt hatte, eine Recherche bei dem Potsdamer Historiker Jens Westemeier. Anlass war das Theaterstück "Die Liste der Unerwünschten", in dem Gerhard Zahner die reale Konstanzer Antrittsvorlesung von Jauß durch eine fiktive Vorlesung ersetzte, in der sich der Romanist in der Vergewisserung seiner SS-Vergangenheit verhedderte und selbst entlarvte.

Gadamer reagierte abwehrend, wenn man ihn auf die Vergangenheit von Jauß ansprach

Westemeier dokumentierte akribisch die Fronteinsätze und die SS-Karriere von Jauß einschließlich der Tätigkeit als Schulungsoffizier und ließ keinen Zweifel daran, dass die Aussagen von Jauß im Spruchkammerverfahren 1947 wie seine späteren Darstellungen "mit der Dokumentenlage nicht übereinstimmen" (SZ vom 22. Mai 2015). Eine Frage aber konnte Westemeiers Studie nicht definitiv beantworten: War der junge Jauß an Kriegsverbrechen beteiligt? "Eine individuelle Tatbeteiligung von Jauß ist nicht nachzuweisen; es ist jedoch völlig ausgeschlossen, dass Jauß von den Verbrechen keine Kenntnis hatte."

Der Anteil an Verschweigen im Schweigen von Jauß hat durch die Studie an Bedeutung gewonnen, und nicht nur das zeigte nun der Abend im Centre Marc Bloch, sondern auch das Ineinanderwirken der Sphären und Medien, die sich des "Falles Jauß" angenommen haben: die Zeitzeugen, die Jauß noch kannten, die Zeithistoriker und Philologen der nachfolgenden Generationen, die ihn in die SS-Geschichte hier, die Fachgeschichte dort einordnen, und schließlich die Theater- und Filmemacher, die Jauß auf Basis des historischen Materials in eine fiktive Figur verwandeln.

Empört schilderte Earl Jeffrey Richards, wie er in den 1990er-Jahren bei deutschen Gelehrten, etwa Wolfgang Iser, dem anglistischen Kollegen von Jauß an der Universität Konstanz, oder dem Philosophen Hans-Georg Gadamer auf Desinteresse und Abwehr stieß, wenn er sie auf die Vergangenheit von Jauß ansprach. Und in einem kleinen brillanten Kolleg fasste Maurice Olender zusammen, was ihm bis heute als Essenz der Atmosphäre und Ertrag des Interviews erscheint, das im Haus des Romanisten am Bodensee geführt wurde: wie Jauß die Frage nach dem "Schweigen einer Generation" zu einer Improvisation über das Verhältnis von Scham und Schuld nutzte, in deren Verlauf das Sprechen über das Verhältnis von Freunden und Kollegen zu Nationalsozialismus und Krieg die eigene Vergangenheit mehr und mehr der Nachfrage entzog.

Sieben gespenstische Minuten der insgesamt 143 Minuten umfassenden Aufzeichnung des Interviews waren zu hören, und der seltsame Eindruck war: Wenn er Französisch sprach, schien die Stimme von Jauß brüchig und dünn, kaum wechselte er ins Deutsche, gewann sie an Festigkeit. Wer hier eigentlich sprach, blieb nicht nur während des Hörens zweifelhaft. Schon zu Beginn der Veranstaltung hatte der auf Basis des Konstanzer Theaterstücks entstandene Film "Die Antrittsvorlesung" von Didi Danquart Hans Robert Jauß in Gestalt des grandios agierenden Schauspielers Luc Feit an die Seite der Nachkriegsfiguren gerückt, aus denen das Verschwiegene oder Kaschierte in unwillkürlichen Tics oder Gesten herausbricht, wie bei Kubricks Dr. Strangelove.

Und das jüngst erschienene Buch des Romanisten Ottmar Ette, "Der Fall Jauss" ( Kadmos Verlag, Berlin 2016), unterwirft die Schriften von Jauß, zumal sein letztes Buch "Wege des Verstehens" (1994) einer strengen Philologie des Verdachts, die das Ungesagte und Verschwiegene aufdecken will. Und Jens Westemeier ließ keinen Zweifel daran, dass er in der erweiterten Buchfassung, die für September angekündigt ist, mit Jauß härter ins Gericht gehen wird als in der für die Universität Konstanz erstellten Studie.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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