Spurensuche:Die Masse macht´s

Lesezeit: 1 min

El Greco, Entkleidung Christi El Greco, Entkleidung Christi. Runtergeladen von Wikipedia, gemeinfrei (Foto: Catedral de Santa María de Toledo)

Die Illusion von der symbiotischen Einheit: Wie sich eine Menschenmenge zusammentut und sich auf Einzelne stürzt, zeigt ein Gemälde von El Greco.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Wie sich eine Menschenmasse auf einzelne stürzt, zeigt El Greco

"In dieser Dichte, da kaum Platz zwischen ihnen ist, da Körper sich an Körper preßt, ist einer dem anderen so nahe wie sich selbst. Ungeheuer ist die Erleichterung darüber." So beschreibt Elias Canetti 1960, warum Menschen Massen bilden, die zur Enthemmung neigen, in Feierstimmung oder in kollektiver Gewalt. In der Masse überwinden Menschen demnach ihre "Berührungsfurcht" und geben sich der Illusion einer symbiotischen Einheit hin. Die Gruppe treibt das Geschehen voran, die Einzelnen reihen sich ein.

Manche aber stehen außen vor und werden schnell zur Zielscheibe, wie dies Jesus auf einem Gemälde El Grecos passiert. Der Künstler schuf es zwischen 1577 und 1579 im Auftrag des Domkapitels von Toledo, der Altar ist bis heute in der Sakristei zu sehen. El Greco führt hier vor, wie die Menge ihr Opfer immer enger umkreist, gestikulierend; gleich werden sie ihm das rote Kleid vom Leib reißen, den feurigen Lichtpunkt dieses hochfahrenden Gemäldes. Platz machen sie nur dem Handwerker, der schon einmal Löcher in das Kreuz bohrt, an dem Jesus sterben wird. Auch die trauernde Maria und ihre beiden Gefährtinnen sind an den Rand gedrückt. Die Masse duldet keine ihr widerstrebenden Empfindungen.

Bloß ein Soldat kommt ins Grübeln. Vielleicht ist er der römische Hauptmann, der im Todesmoment Jesu zum Glauben finden wird. Versunkenen Blickes steht er da, stützt untätig seine Rechte in die Hüfte und konterkariert so den Schächer, der sich bereits am Gewand des gefesselten Jesus zu schaffen macht. Den Soldaten ekeln die Demütigungen um ihn herum offenkundig an. Doch trotzt seiner stabilen Metallrüstung resigniert er, ohne auch nur zu versuchen, sich der Menge entgegenzustemmen.

Die Kleriker von Toledo baten Gutachter, das frisch gemalte Werk zu prüfen. Diese bemängelten, dass zu viele Köpfe das Haupt des Heilands überragen. Tatsächlich ist ein Gedrängel, wie El Greco es malte, für das Motiv ungewöhnlich. Eine so dichte Wand aus erregten Menschen hinterfängt Jesus in diesem Moment eigentlich nicht. Genau damit aber zeigt El Greco die Dynamik einer Situation, in der sich eine Gruppe gegen einen wehrlosen Einzelnen verbündet.

© SZ vom 27.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: